Vor etwa einem Vierteljahr – in einer Berliner Straßenbahn.
Mir schräg gegenüber saßen zwei ältere Frauen, Omas. Eine von ihnen sagte:
„Mein Enkel ist ein ganz helles Bürschlein. Vor ein paar Tagen kam er heim und
sagte: „Oma, ich kann ein Gedicht. Wer Englisch lernt, der wird ganz schlau –
wer Russisch quatscht ist dumm wie Sau.“
So etwas kann ich nicht verkraften. Erst einmal fühle ich
mich persönlich von einem absolut inkompetenten Dummerchen angegriffen. Das
kann ich verkraften. Dass aber Erwachsene so etwas auch noch laut von sich geben – das zeigt von
Inkompetenz oder Bosheit auf einer fehlenden Basis. Also habe ich mich
eingemischt mit dem Ergebnis, dass es keines gab. Ich konnte mich von
böswilliger Haltung überzeugen – mehr nicht. Um einiges zum Kulturgut „Russische
Sprache“ zu sagen, diese Einleitung.
Meine Bekanntschaft mit der russischen Sprache begann im
September 1951. Ich kam in die damalige Oberschule Luckau, in die 9. Klasse. Als
die Lehrerin für Russisch und Zeichnen in die Klasse kam, meinte ich bei mir,
dass die weißhaarige alte Dame aus dem Baltikum uns wohl kaum viel beibringen
kann. Fräulein Adolphi machte sich mit uns bekannt. Sie veranlasste den einen
und die andere, den ihr genannten Familiennamen auszuschreiben. Um genau zu
sein. Zu meinen sieben Buchstaben sagte sie: „Newiger, sie – ja, sie sagte „sie“
zu uns! – sie haben eine gute Handschrift. Sie müssen einen guten Charakter
haben.“ Meine Meinung zu ihr wechselte sofort zum Gegenteil. Bis zum Abitur war
ich ihr fleißigster Schüler – in Russisch. Mit Zeichnen habe ich noch heute
meine Probleme.
Erst seit einiger Zeit weiß ich, dass Fräulein Adolphi
einmal sehr großen Mut bewiesen hat. Wir sollten das Gedicht von Wladimir Majakowskij
lernen, in dem es von einem Neger heißt: „Und Russisch lerne ich nur deshalb,
weil Lenin Russisch gesprochen hat.“
Sie hat damals etwas gesagt, was bei der herrschenden
Ordnung hätte anders enden können: „Russisch – das ist nicht nur die Sprache
Lenins, sondern auch die von Puschkin, Dostojewskij, Lomonossow, Lermontow,
Gogol, der großen Komponisten Tschaikowski, Rachmaninow, Borodin, Prokowjew, von
Künstlern wie Brjullow, Aiwasowskij,
Repin, bekannter Wissenschaftler und von
mehr als 200 Millionen Menschen.“ Das beeindruckte mich damals schon – ohne die
politische Brisanz zu ahnen.
Nach der Oberschule wurde ich Militär. Da gab es Kleidung,
etwas zu Essen und Löhnung, mit einem Teil davon ich Mutti helfen konnte, die
drei anderen Brüder „auf die Beine zu stellen“. Auch, weil ich meinte, dass ich
so den eben erst zu Ende gegangenen Krieg nicht wieder aufflammen lassen zu helfen - also den Frieden zu schützen. Weil Russisch im "Warschauer Vertrag" die Kommandosprache" war, hatte ich einerseits keine Schwierigkeiten, zum anderen erweiterte ich bewusst laufend meinen aktiven Wortschatz.
Hier übergehe ich Einzelheiten. Mein Wissen half mir, einen Studienplatz
an der renommierten Shukowski-Militärakademie für Ingenieurwesen in der
Luftfahrt regelrecht „zu erobern“. Nach fünf Jahren verteidigte ich meine
Diplomarbeit auf Russisch mit „Gut“ und kam mit meiner russischen Ehefrau
zurück in die Heimat.
Auch heute noch habe ich Freunde in Russland, dazu auch in
der Ukraine, wo ich seit 17 Jahren bei meiner ukrainischen Ehefrau wohne. Alles
deswegen, weil ich mit meinen Sprachkenntnissen 1995 aus der Arbeitslosigkeit in
die Anstellung bei einem deutschen Kleinunternehmen wechseln konnte, für das
ich in der Ukraine zu arbeiten begann. Hier bekam ich dann auch mit, dass die
ukrainische Sprache kein Dialekt des Russischen ist, sondern eine eigenständige
slawische Sprache. Etwas melodischer als die russische, mit einigen Brücken zum
Polnischen. Beide Sprachen schreiben mit dem kyrillische Alphabet – allerdings gibt
es fünf Buchstaben im Ukrainischen mehr, welche solche aus dem Russischen ersetzen
oder darin fehlen.
Während ich diese Zeilen schrieb, hörte ich ein
Fernsehinterwiev mit der ukrainischen Schauspielerin Klara Nowikowa. Sie bestätigte
das, was vor allem russische Satiriker immer wieder bemerken. Russische Emigrantinnen
bringen häufig zu Auftritten der Künstler aus der Heimat ihre amerikanischen
(englischen) Männer (Partner) mit. Die haben meist nicht viel von der
Veranstaltung, weil sie oft auf Wortspiele der reichen russischen Sprache keinen
„Zugriff“ haben. Die englischsprachige Welt ist in der Hinsicht „sprachlich
ärmer“.
Die Situation habe ich in Deutschland ebenfalls nicht
selten. Ein intelligenter russischer/ukrainischer Scherz „kommt nicht an“ – es fehlt
der einfach der Hintergrund einer anderen sprachlichen Kultur. Kein Vorwurf –
sondern lediglich eine Tatsache, von der anderen Seite nicht verschuldet.
Zum Thema werde ich morgen fortsetzen. Denn es ist etwas zu
umfangreich, um in einen einzigen Post zu passen.
Bleiben Sie recht gesund!
Ihr
Siegfried Newiger
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