Montag, 2. Juli 2012

Bild der Deutschen


Meine hatten alle Schlüssel mitgenommen – mich eingesperrt. So konnte ich den ukrainischen Provider nicht rechtzeitig bezahlen – und war zwei Tage ohne Internet.

Das hier berichtete war am 29.06.2012 beschrieben worden. Nur ein Ereignis am Rande –  nicht gleich so wichtig – oder?

               Wir waren am Vortag aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Charkow (hier sind 150 km der deutsche „Katzensprung“) heimgekehrt. Von unserer Freundin Maria Iwanowna, ehemalige Mathematiklehrerin, Lehrerin auch für Geschichte. Nach dem Tod ihres Mannes vor 4 Jahren sehr einsam geworden. So, wie es der Victor Hugo ausdrückt: „Die ganze Hölle ist in dem einen Wort geborgen: Einsamkeit.“
Die damaligen Strukturen sind zerfallen, die Jugend hat meist das Dorf verlassen, „Jeder stirbt für sich allein.“ heißt es bei Fallada. Die Enkelin einer ihrer Freundinnen hatte sie sich für einige Wochen „ausgeliehen“ – da war jemand, der Abwechslung und das noch nicht vergessene, befriedigende Gefühl des „Gebrauchtwerdens“ ins Haus brachte.

               Mit dem aus seinem Wohnort herbeigekommenen Sohn haben wir eine alte kleine Scheune abgerissen und ihr eine Sommerdusche in Gartennähe hin gebaut. Und gemeinsam gegessen, geschwatzt, grüne Erbsen ausgepahlt, und alles getan, was in einem großen Garten so anfällt. Wir waren ihr sehr erwünschte Gesellschaft.
               Der vorletzte unserer Tage bei ihr war der vierte Todestag ihres Mannes. Die beiden jungen Leute waren noch mit dem Abriss der Scheune beschäftigt – also gingen wir zu Dritt auf den Friedhof. Wir ließen die weinende Witwe allein die Zwiesprache mit ihrem Manne halten. Danach kamen zwei Rosen auf das Grab. Tote haben nur eine gerade Anzahl von Blumen zu bekommen – darauf wird streng geachtet. Zu Gratulationen aller Art immer schön aufpassen, dass in Sträußen eine ungradzahlige Menge an Blumen vorhanden ist … Am Kopfenden des Grabes wurde das obligatorische Wodkaglas auf einem Teller hingestellt, abgedeckt mit einer Scheibe Brot. Auf den Teller kamen noch Früchte, ein gekochtes Ei, einige Stücke Konfekt.  
               Auf einer Grabstätte in der Nähe wurde ebenfalls Konfekt abgelegt – erneut geradzahlig. Mir erklärten beide, dass dort die Eltern einer Freundin aus einem Ort bei Lwow liegen. Deren Mann ist vor kurzem gestorben, sie wird nie wieder finanziell in der Lage sein, hierher zu kommen. Also habe sie meine Natascha, die vor einiger Zeit dort bei ihr war, um etwas gebeten. Meine Gute holte ein Leinentüchlein hervor, tat in dieses vier Hände voll Erde von den Gräbern. Die wird sie jener Frau mitbringen – irgendwann im Herbst.

               Auf dem Rückweg fiel mir etwas ein. Am Fluss Ros, der durch Belaja Zerkov fließt, treffe ich gewöhnlich jeden Morgen beim Spaziergang mit unserem Hund einen 79 Jahre alten Angler, der sich immer gern mit mir unterhält. Vor unserer Abreise nach Charkow hatte er mir noch erklärt, dass er sein persönliches Verhältnis zu Angela Merkel überdenke, die sich offiziell geweigert habe, als Zuschauer an Spielen der deutschen Nationalmannschaft in der Ukraine dabei zu sein.
               Er hatte sich bei unglücklichem Umstand einen Riss in einem Fußknochen zugezogen und saß nun mit eingegipstem Fuß allein zu Hause. Denn eine Tochter lebt in Moldawien und hat dort Arbeit, die andere wohnt auch weit weg. Deshalb nahm ich aus dem Garten von Maria Iwanowna ein Plastetütchen voll grüner Erbsenschoten mit. Am Morgen nach der Rückkehr  besuchte ich ihn. Er war hoch erfreut – auch über das bescheidene Präsent. Wir haben uns angeregt unterhalten. Am nächsten Morgen wussten alle Männer am Wasser bereits von meinem Besuch bei „Petrowitsch“ – sein Vatersname.

               Am Abend dieses Tages gab es im ukrainischen Fernsehen eine kurze Szene: einheimische Rocker auf ihren martialisch geschmückten Motorrädern erwarten eine deutsche Delegation. Einer scherzte: „Wenn die uns so sehen, machen die gleich wieder kehrt.“

Dann kam eine Frau mittleren Alters in Bild. „Wir erwarten deutsche Freunde aus der Umgebung von Hamburg. Sie helfen uns schon seit Jahren bei der Betreuung von Opfern der Katastrophe von Tschernobyl. Sammeln Geld, beschaffen Medikamente. Alles aus Enthusiasmus, ohne geschäftliche Hintergründe.“ Und kurz danach ein Kleinbus sowie einige Männer auf mit deutschen und ukrainischen Fähnchen bestückten Fahrrädern. Ein höflich gesagt recht beleibter Herr antwortete dem Reporter: „Wir sind vor 9 Tagen in Hamburg aufgebrochen. Die Frauen im Bus, wir auf Rädern. Wir wollen ein Zeichen setzen. In dieser auf das Fußballspektakel konzentrierten Zeit daran erinnern, dass Tschernobyl nicht vergessen werden sollte.“

Bei mir gab es in dem Moment heimische Problemchen – ich konnte die Sendung leider nicht weiter verfolgen. Aber schon aus dem Gehörten meine Hochachtung für die Leistung der Radler. Von Hamburg nach Kiew sind es auf der Straße gute 2000 Kilometer. Also täglich mehr als 220 km im Fahrradsattel!

Als wir Mitte Mai nach Deutschland gefahren waren, erreichte uns die Nachricht vom Tode unseres Freundes Pjotr. Todesursache: Krebs. Stiefsohn Pavel, wegen einer merkwürdigen Visa-Verweigerung durch die Visastelle bei der deutschen Botschaft in Kiew daheim geblieben, kaufte einen Kranz und erschien als Vertreter unserer Familie bei der Beerdigung.
Gestern nun war „40-ster Tag“. 
Bei den orthodoxen Christen nicht nur dieses Landes, aber auch bei religiös nicht gebundenen Slawen streng eingehalten: am 9-ten und 40-sten Tag nach dem Tode und am Jahrestag des Todes wird ein Mittagessen gegeben für Verwandte und Freunde zu Ehren des Verstorbenen. Weil an diesem Tag Natascha zum Klassentreffen im Bautechnikum fuhr, gingen wir beiden Männer dahin. Pavel, Koch der 5. Kategorie – es gibt davon sechs – hatte auf Bitte der Witwe Fischbouletten und einen Kartoffel-Gemüse-Auflauf meisterhaft vorbereitet – deshalb waren wir vorzeitig da. In der Wohnung war es peinlich sauber und der Tisch bereits eingedeckt. Auf der Anrichte ein Bild des Heimgegangenen, mit schwarzem Flor. Davor ein Teller mit einem Löffel seitlich des mit Wodka gefüllten Glases, dieses von einer Brotscheibe abgedeckt. Auch bereits bekannte Sitte.

Die anderen Gäste kamen recht pünktlich. Zu Beginn des Essens erhoben sich alle – ich verspätet, weil überrascht. Es folgte ein eher gesungenes denn gesprochenes Vaterunser. Danach wurde – ohne anzustoßen – ein Gläschen darauf geleert, dass „ihm die Erde federleicht sein möge“.

Ohne Einzelheiten zu berichten – es kam doch die Sprache darauf, dass ich Deutscher bin. Dann folgte, ebenfalls unerwartet, im Gespräch am Tisch ein Bezug auf die Hamburger. Ja, auf jene, welche den Tschernobylopfern tätig helfen. Man hatte den Beitrag bis zum Ende gesehen! Die einhellige Meinung: prächtige Leute, diese Deutschen. Ich war etwas hin und her gerissen. Erst einmal positiv gestimmt.

Denn hier durfte ich stolz sein auf diese meine noch unbekannten Landsleute.

Denen möchte ich hiermit öffentlich Dank sagen!

Sie stellen den Ruf wieder her, welchen unsere Vorväter aufgebaut haben, den heute andere leider schon erfolgreich zunichtemachen. Da ich das auch schon erleben durfte, waren meine  Gefühle im Zwiespalt.

So ist sie, von innen betrachtet, die nun auch schon „meine“ Ukraine.

Bleiben Sie recht gesund!

Ihr

Siegfried Newiger


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