Meine hatten alle Schlüssel mitgenommen – mich eingesperrt.
So konnte ich den ukrainischen Provider nicht rechtzeitig bezahlen – und war zwei Tage ohne
Internet.
Das hier berichtete war am 29.06.2012 beschrieben worden. Nur ein Ereignis
am Rande – nicht gleich so wichtig –
oder?
Wir
waren am Vortag aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Charkow (hier sind 150
km der deutsche „Katzensprung“) heimgekehrt. Von unserer Freundin Maria
Iwanowna, ehemalige Mathematiklehrerin, Lehrerin auch für Geschichte. Nach dem
Tod ihres Mannes vor 4 Jahren sehr einsam geworden. So, wie es der Victor Hugo
ausdrückt: „Die ganze Hölle ist in dem einen Wort geborgen: Einsamkeit.“
Die damaligen Strukturen sind
zerfallen, die Jugend hat meist das Dorf verlassen, „Jeder stirbt für sich
allein.“ heißt es bei Fallada. Die Enkelin einer ihrer Freundinnen hatte sie
sich für einige Wochen „ausgeliehen“ – da war jemand, der Abwechslung und das
noch nicht vergessene, befriedigende Gefühl des „Gebrauchtwerdens“ ins Haus
brachte.
Mit dem
aus seinem Wohnort herbeigekommenen Sohn haben wir eine alte kleine Scheune
abgerissen und ihr eine Sommerdusche in Gartennähe hin gebaut. Und gemeinsam gegessen,
geschwatzt, grüne Erbsen ausgepahlt, und alles getan, was in einem großen
Garten so anfällt. Wir waren ihr sehr erwünschte Gesellschaft.
Der
vorletzte unserer Tage bei ihr war der vierte Todestag ihres Mannes. Die beiden
jungen Leute waren noch mit dem Abriss der Scheune beschäftigt – also gingen
wir zu Dritt auf den Friedhof. Wir ließen die weinende Witwe allein die
Zwiesprache mit ihrem Manne halten. Danach kamen zwei Rosen auf das Grab. Tote
haben nur eine gerade Anzahl von Blumen zu bekommen – darauf wird streng
geachtet. Zu Gratulationen aller Art immer schön aufpassen, dass in Sträußen
eine ungradzahlige Menge an Blumen vorhanden ist … Am Kopfenden des Grabes wurde
das obligatorische Wodkaglas auf einem Teller hingestellt, abgedeckt mit einer
Scheibe Brot. Auf den Teller kamen noch Früchte, ein gekochtes Ei, einige
Stücke Konfekt.
Auf
einer Grabstätte in der Nähe wurde ebenfalls Konfekt abgelegt – erneut
geradzahlig. Mir erklärten beide, dass dort die Eltern einer Freundin aus einem
Ort bei Lwow liegen. Deren Mann ist vor kurzem gestorben, sie wird nie wieder
finanziell in der Lage sein, hierher zu kommen. Also habe sie meine Natascha,
die vor einiger Zeit dort bei ihr war, um etwas gebeten. Meine Gute holte ein
Leinentüchlein hervor, tat in dieses vier Hände voll Erde von den Gräbern. Die
wird sie jener Frau mitbringen – irgendwann im Herbst.
Auf dem
Rückweg fiel mir etwas ein. Am Fluss Ros, der durch Belaja Zerkov fließt,
treffe ich gewöhnlich jeden Morgen beim Spaziergang mit unserem Hund einen 79
Jahre alten Angler, der sich immer gern mit mir unterhält. Vor unserer Abreise
nach Charkow hatte er mir noch erklärt, dass er sein persönliches Verhältnis zu
Angela Merkel überdenke, die sich offiziell geweigert habe, als Zuschauer an
Spielen der deutschen Nationalmannschaft in der Ukraine dabei zu sein.
Er hatte
sich bei unglücklichem Umstand einen Riss in einem Fußknochen zugezogen und saß
nun mit eingegipstem Fuß allein zu Hause. Denn eine Tochter lebt in Moldawien
und hat dort Arbeit, die andere wohnt auch weit weg. Deshalb nahm ich aus dem Garten
von Maria Iwanowna ein Plastetütchen voll grüner Erbsenschoten mit. Am Morgen
nach der Rückkehr besuchte ich ihn. Er
war hoch erfreut – auch über das bescheidene Präsent. Wir haben uns angeregt
unterhalten. Am nächsten Morgen wussten alle Männer am Wasser bereits von
meinem Besuch bei „Petrowitsch“ – sein Vatersname.
Am Abend
dieses Tages gab es im ukrainischen Fernsehen eine kurze Szene: einheimische
Rocker auf ihren martialisch geschmückten Motorrädern erwarten eine deutsche
Delegation. Einer scherzte: „Wenn die uns so sehen, machen die gleich wieder
kehrt.“
Dann kam eine Frau mittleren
Alters in Bild. „Wir erwarten deutsche Freunde aus der Umgebung von Hamburg.
Sie helfen uns schon seit Jahren bei der Betreuung von Opfern der Katastrophe
von Tschernobyl. Sammeln Geld, beschaffen Medikamente. Alles aus Enthusiasmus,
ohne geschäftliche Hintergründe.“ Und kurz danach ein Kleinbus sowie einige
Männer auf mit deutschen und ukrainischen Fähnchen bestückten Fahrrädern. Ein höflich
gesagt recht beleibter Herr antwortete dem Reporter: „Wir sind vor 9 Tagen in
Hamburg aufgebrochen. Die Frauen im Bus, wir auf Rädern. Wir wollen ein Zeichen
setzen. In dieser auf das Fußballspektakel konzentrierten Zeit daran erinnern,
dass Tschernobyl nicht vergessen werden sollte.“
Bei mir gab es in dem Moment heimische
Problemchen – ich konnte die Sendung leider nicht weiter verfolgen. Aber schon aus
dem Gehörten meine Hochachtung für die Leistung der Radler. Von Hamburg nach
Kiew sind es auf der Straße gute 2000 Kilometer. Also täglich mehr als 220 km
im Fahrradsattel!
Als wir Mitte Mai nach
Deutschland gefahren waren, erreichte uns die Nachricht vom Tode unseres
Freundes Pjotr. Todesursache: Krebs. Stiefsohn Pavel, wegen einer merkwürdigen Visa-Verweigerung
durch die Visastelle bei der deutschen Botschaft in Kiew daheim geblieben, kaufte
einen Kranz und erschien als Vertreter unserer Familie bei der Beerdigung.
Gestern nun war „40-ster Tag“.
Bei den orthodoxen Christen nicht nur dieses Landes, aber auch bei religiös
nicht gebundenen Slawen streng eingehalten: am 9-ten und 40-sten Tag nach dem
Tode und am Jahrestag des Todes wird ein Mittagessen gegeben für Verwandte und
Freunde zu Ehren des Verstorbenen. Weil an diesem Tag Natascha zum
Klassentreffen im Bautechnikum fuhr, gingen wir beiden Männer dahin. Pavel,
Koch der 5. Kategorie – es gibt davon sechs – hatte auf Bitte der Witwe
Fischbouletten und einen Kartoffel-Gemüse-Auflauf meisterhaft vorbereitet –
deshalb waren wir vorzeitig da. In der Wohnung war es peinlich sauber und der
Tisch bereits eingedeckt. Auf der Anrichte ein Bild des Heimgegangenen, mit
schwarzem Flor. Davor ein Teller mit einem Löffel seitlich des mit Wodka
gefüllten Glases, dieses von einer Brotscheibe abgedeckt. Auch bereits bekannte
Sitte.
Die anderen Gäste kamen recht
pünktlich. Zu Beginn des Essens erhoben sich alle – ich verspätet, weil
überrascht. Es folgte ein eher gesungenes denn gesprochenes Vaterunser. Danach
wurde – ohne anzustoßen – ein Gläschen darauf geleert, dass „ihm die Erde
federleicht sein möge“.
Ohne Einzelheiten zu berichten –
es kam doch die Sprache darauf, dass ich Deutscher bin. Dann folgte, ebenfalls
unerwartet, im Gespräch am Tisch ein Bezug auf die Hamburger. Ja, auf jene,
welche den Tschernobylopfern tätig helfen. Man hatte den Beitrag bis zum Ende
gesehen! Die einhellige Meinung: prächtige Leute, diese Deutschen. Ich war
etwas hin und her gerissen. Erst einmal positiv gestimmt.
Denn hier durfte ich stolz sein auf diese meine noch unbekannten
Landsleute.
Denen möchte ich hiermit öffentlich Dank sagen!
Sie stellen den Ruf wieder her,
welchen unsere Vorväter aufgebaut haben, den heute andere leider schon
erfolgreich zunichtemachen. Da ich das auch schon erleben durfte, waren meine Gefühle im Zwiespalt.
So ist sie, von innen betrachtet,
die nun auch schon „meine“ Ukraine.
Bleiben Sie recht gesund!
Ihr
Siegfried Newiger
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen