Erneut war ich in Odessa,
bei Freunden. Was mir gleich am Ankunftsabend auffiel: aus einem Kellerfenster
war ein Gartenschlauch zu sehen, der ständig einen kräftigen Wasserstrahl auf
die Erde strömen ließ. Mir wurde von Dirk erklärt, dass nach Bau eines für 21
Etagen genehmigtes und mit 28 Etagen vollendetem Haus offensichtlich in dem
nahegelegenen anderen ein Riss in den Grundmauern das Einsickern von
Grundwasser provoziert habe. Das würde nun ständig abgepumpt.
Die Genehmigung
für überzählige sieben Etagen sei inzwischen nachträglich erteilt worden. Niemand
wisse, für welche Summe – aber alle reden von Bestechung.
Als einen Tag später
die Wasserversorgung ausfiel, kam auch der örtliche Obermeister der
Wasserversorgungstechniker vorbei, die hier noch Sanitärtechniker heißen und
alles bearbeiten, was mit Versorgung und Entsorgung zusammenhängt. Man hatte
ihn alarmiert, weil der verantwortliche Techniker wegen Urlaub nicht greifbar
war. Er zeigte uns auf unsere Bitte, wie hoch durch einen Schaden an der Wasserzuleitung
des Hauses der Wasserspiegel im Keller angestiegen war. Regelrecht erschreckend.
Versprach, dass nach Abpumpen auf eine zumutbare Höhe der Schaden repariert
würde. Nach etwa zwei Stunden hatte er sein Versprechen eingelöst.
Tatyana entlockte ihm seine private Telefonnummer. Er kommentierte: „Aber
wenn sie mich nachts anrufen, erfahren sie über sich sehr vieles, was sie bisher
nicht wussten.“ Denn nach 21 Uhr bis sechs Uhr früh ist der Havariedienst der
Stadt verantwortlich für besondere Vorgänge.
Als Dirk und ich den Taxidienst zu
einem Amt nutzten, kamen wir mit dem Fahrer ins Gespräch. Bei einem kurzem
Thema sagte Dirk, dass gute Bekannte aus
der Stadt Nikolajew ihm gesagt hätten, die neue Polizei sei schon fast so
bestechlich wie die ehemalige Miliz. Der Mann lachte. „Man hat sie belogen.
Wenn in Odessa früher jemand betrunken am Steuer saß und gefasst wurde, fuhr
man ihn für 100 US-Dollar nach Hause. Heute kostet das 400 $.“ Wir waren
erstaunt. Er fuhr fort: „Zudem haben die unerfahrenen Neuen hier in Odessa
schon die Hälfte ihrer neuen Dienstfahrzeuge so zuschanden gefahren, dass sie
zu Fuß Streifendienst machen müssen.“ Weil keine Neuanschaffungen geplant
seien.
Aus einigen Fahrten
mit dem Autobus in die Stadt kam ich zur Auffassung, dass ich in Odessa nicht
Kraftfahrer sein möchte. Vor allem nicht beruflich. Kiew ist als Hauptstadt mit
gewöhnlich breiteren Straßen schon tagsüber der reine Horror. Odessa übertrifft
sie um einiges.
Von der netten Zahnärztin,
die auf der Rückfahrt nach Bila Tserkva neben mir saß, erfuhr ich einiges zur
Einstellung Offizieller gegenüber den Bürgern. Es war eine Bestätigung der
schon bekannten Haltung bürokratisch geprägter Amtsinhaber.
Sie und andere
Besitzer von Eigenheimen hatten zusammengelegt, Bitumenmischung und entsprechende
Technik sowie Arbeitskräfte bestellt und etwa 300 m Straße zu ihren Häusern
befestigen lassen. Dahinter war etwa noch eine ebensolche Strecke gelegen, an welcher
sich die Häuschen von weniger bemittelten Bürgern befinden. Der Bürgermeister
der Gemeinde hatte sich die neue Straße angesehen und die Initiative gelobt.
Sie habe ihn angesprochen. Ob er die Finanzierung der Reststrecke sichern
könne. Sie selber würde die „Bauaufsicht“ übernehmen – freiwillig und
kostenlos. Er sagte zu. Bis heute tat und tut sich nichts.
In ähnlichem
Zusammenhang habe ich unsere Freundin Tatyana ermuntert, welche Bürokraten
gegenüber extrem „schüchtern“ ist. Eine noch aus der Sowjetvergangenheit
stammende Haltung. Habe ihr gesagt, dass dies ihr „persönlicher Maidan“ ist. Denn
nur, wenn alle Menschen vor Ort den Bürokraten aufrecht und selbstbewusst
gegenübertreten, als Bürger und nicht als Untertanen, wird sich etwas ändern. Sie
versprach, ihr Verhalten zu überdenken und langsam umzustellen.
Während aller
Tage in Odessa habe ich nicht eine Fernsehsendung gesehen. Kein Verlust. Zuhause
war die Stieftochter mit dem Enkel da und die Oma sehr beschäftigt. Deshalb kam
plötzlich auf dem von ihr eingestellten Sender eine Reportage zu ukrainischen
unbemannten Luftaufklärung. Sehr interessant.
Erneut eine Bestätigung, was
Untätigkeit von Amtsinhabern beziehungsweise deren unzureichenden
Voraussetzungen sich fast so auswirken, als wäre im ukrainischen Verteidigungsministerium
die Fünfte Kolonne Russlands direkt angestellt. Nicht nur, dass von dort die
Beschaffung von Drohnen und anderen unbemannten fliegenden Mitteln zur
Frontaufklärung gegen vorhandene ukrainische Angebote mit teilweise besseren
Leistungen und zu wesentlich geringeren Preisen durchgesetzt wurde. Sondern die
Ausbildung der erforderlichen „Steuerleute“ wurde sträflich vernachlässigt, so
dass von den immerhin schon vorhandenen 72 Einheiten etwa ein Drittel nicht
eingesetzt werden kann.
Beschämend. Nein – unverantwortlich. Genauer – die Kämpfer
an der Ostfront beachtend: unverzeihlich!
Bleiben Sie recht gesund!
Ihr
Siegfried Newiger