Nicht jeder Tag hat
vor allem interessante und freudige Ereignisse für uns bereit. Aber doch ist
jeder Tag ein Erlebnis im Leben. Heute Morgen gingen wir wie immer spazieren.
Schon von weitem erkannte ich, dass Natascha aus dem Heizhaus auf uns zuging.
Denn sie lächelte über das ganze Gesicht. Wir begrüßen uns herzlich und sie
fragte, ob ich denn bei der Glätte keine Furcht hätte hinzufallen. Mit ihr wäre
das vor drei Tagen geschehen, sie habe sich dabei eine Rippe angebrochen. Ich
bedauerte sie und wünschte ihr gute Besserung. Sie antwortete, dass ihr die
Bewegung schon weniger Schmerzen bereitet. Und sie aufzuheitern erzählte ich
ihr, wie mich gestern die Retriever-Hündin umgeworfen hatte. Sie lachte
herzlich. Wir verabschiedeten uns bis zum nächsten Mal.
Nach einer
Viertelstunde rief mich plötzlich eine Frau von hinten an: „Hallo junger
Rentner, wohin wollen Sie denn?“ Ich drehte mich um. Denn an der Stimme hatte
ich Ljuba nicht erkannt. Mit ihr waren wir vor langen Jahren einmal nach
Deutschland gefahren – sie als unser Gast im Auto. Sie wohnt ganz in der Nähe,
im sogenannten Privatviertel – das so heißt, weil dort viele kleine eigene Häuser
stehen. Wir hatten einander lange nicht gesehen. Sprachen also darüber wie es
uns geht. Sie klagte, dass sie gestern Morgen ausgerutscht und hingefallen ist.
Habe sich dabei die Schulter verletzt, sodass sie beim Arzt eine
Blockadespritze in die Schulter bekommen musste. Heute könne sie den Arm aber
wieder bewegen. Sie hatte vom Markt Milch geholt, um ihre Enkelin einen Brei zu
kochen. Ob ich denn keine Angst hätte, hinzufallen. Auch ihr erzählte ich die
Sache mit der Hündin, was sie erheiterte. Ich bat sie ihren Partner zu grüßen
und verabschiedete mich.
So hat die
Straßenglätte zwischen unseren Bekannten schon ihre Opfer gefunden. Das
versöhnt mich ein wenig damit, dass ich auch schon sechsmal gestürzt bin.
Fast am Ende
unseres Spazierganges erkannte ich in dem entgegenkommenden Mann meinen Freund
Pjotr Nikolajewitsch. Der 86 Jahre alte ehemalige Seemann trägt auch heute
dichten Bart. Erstmals sah ich, dass er auf dem rechten Bein etwas hinkt. Nach
unserer Begrüßung fragte er mich, ob wir einander nicht duzen könnten. Da er
als älterer diesen Vorschlag machte, konnte ich ihm getrost annehmen. Er
erklärte mir seinen Grund: wir Deutschen kennen doch den Vatersnamen nicht. Der
wird ja hier häufig als Zeichen guter Freundschaft genutzt. Deshalb würde er
mich einfach Siegfried nennen wollen. Da mein Vater Hermann hieß, habe ich
Pjotr angeboten, mich auf Russisch Germanowitsch zu nennen. Er lachte und
meinte, dass er an Siegfried schon gewöhnt sei.
Allerdings wollte
ich anschließend wissen, weshalb er auf dem rechten Bein hinkt. Da erzählte er
mir, dass er im Jahre 1942 als zwölfjähriger Einwohner dieser Stadt einer
Gruppe Soldaten eine Furt durch den Fluss heraus zeigen sollte. Die etwa 30
Soldaten hatten die Aufgabe, dort einen Übergang für schwere Waffen der Sowjetarmee
anzulegen. Er hätte dem dem sie führenden Unteroffizier geraten, in kleinen
Grüppchen verteilt das Ufer entlang zu gehen. Der Mann mit Kampferfahrung hatte
sich von dem zwölfjährigen nicht belehren lassen wollen. Er selber hätte die
Abschüsse der Geschütze gehört, erinnere sich aber weiter an nichts. Aufgewacht
war er im Lazarett. Dort erfuhr er, dass nur fünf Männer, darunter er, die deutsche
Geschützsalve überlebt hätten. Er hatte Glück – ihm hatte nur ein Splitter ein
Stückchen aus dem rechten Ohr gerissen und ein zweiter eine Wunde am rechten
Knie verursacht. Dort ist er später heraus geeitert, hatte aber Veränderungen
verursacht, die das leichte Hinken gegenwärtig begründen. Das hindert den alten
Herrn aber nicht daran, ähnlich wie ich jeden Tag eine Spazierstrecke
abzulaufen, die allerdings noch länger ist als meine. Er ist für mich ein
Beispiel an Lebensmut.
Bleiben Sie recht
gesund!
Ihr
Siegfried Newiger