Donnerstag, 27. November 2014

Stimmung...

Es verwundert deutsche Landsleute nicht selten, dass Slawen recht traurige Ereignisse unter Lachen schildern können. An diese Besonderheit habe ich mich inzwischen gewöhnt.

Deshalb hat mich der unverblümte Kommentar eines Kämpfers an der ukrainischen Ostfront gegenüber einer Fernsehjournalistin nicht gewundert. Sie fragte, ob es denn nicht besonders gefährlich sei, dass der Einheit tschetschenische Söldner gegenüber in Stellung liegen. Er antwortete: "Das sind auch nur Menschen. Allerdings bärtige. Aber wenn wir die greifen, ist der Bart ab - wir rasieren sie." Wahrscheinlich ist dieser Scherz eine versteckte Drohung. Wenn ich mich recht entsinne, ist der Verlust des Bartes für einen erwachsenen Mann dieser Völker eine große persönliche Schande. 

Die bisherige Zurückhaltung der USA bei Waffenlieferungen an die Ukraine kommentierte ein Bekannter so: "Ich wünsche denen, dass sich bei ihnen mal ein paar Staaten von den Vereinigten lossagen, damit sie wirklich mitbekommen, wie das ist."

Eine Verkäuferin hielt mir ihr Mobilgerät unter die Nase und schaltete für mich ein aktuelles Interview mit dem deutschen Außenminister ein sowie auf "Laut". Frank-Walter Steinmeier formulierte darin, dass es für die Ukraine noch ein langer Weg durch Reformen bis zum Mitglied der EU sein. Eine Mitgliedschaft in der NATO sähe er in noch weiterer Ferne. Es dauerte anschließend eine Weile, bis ich sie davon überzeugen konnte, dass die Äußerungen der jetzigen ukrainischen Spitzenpolitiker und ihre eigenen Wünsche nicht erst seit heute etwas auseinanderstreben. Dass auch Präsident und Premier die Erwartungen deutlich als solche definiert haben und dazu schwierige Etappen absteckten. So unterschiedlich sind hier Meinungen und Stimmungen...

Ein weiterer formulierte ziemlich endgültig: 
 
"Vor hundertfünfzig Jahren schon hat Dostojewski etwas formuliert, was heute erneut bewiesen wird: Alles, alles kann man von der Weltgeschichte sagen, was der hirnverbranntesten Einbildungskraft nur einfallen mag, bloß dieses nicht, dass sie vernünftig sei."
 
Da ist wenig zuzufügen.
 
Bleiben Sie recht gesund!
 
Ihr

Siegfried Newiger





Sonntag, 23. November 2014

Volontäre...

Das Wort "Volontär" bekommt man zur Zeit in der Ukraine fast überall und ständig zu hören und zu sehen. 
Seine ursprüngliche Bedeutung ist "Freiwilliger" oder auch "für geringe Bezahlung einen Beruf praktisch Erlernender". Häufig für angehende Reporter gebraucht, die so ihre Eignung für diese Tätigkeit beweisen. 
Hier in der Ukraine sind gegenwärtig die Volontäre fast das Rückrat der ukrainischen Armee. Das erkennen sowohl Präsident Poroshenko wie auch Ministerpräsident Jazenjuk in vielen ihrer offiziellen Verlautbarungen an.
Wesentlich drastischer sagen das die Männer an vorderster Front. Sie formulieren nicht selten, dass die Sicherstellung mit militärischen Verbrauchsgütern (Uniformen, kugelsicheren Westen, Helmen, Schuhwerk...) durch das ukrainische Verteidigungsministerium absolut unzureichend ist, die Truppenverpflegung fast ausschließlich durch die Volontäre gesichert wird. Auch an der medizinischen Betreuung der Verwundeten haben die Volontäre - unter ihnen allen extrem viele Frauen - überragenden Anteil.

Es ist bewundernswert, wie die meisten Ukrainer und Ukrainerinnen sich für ihn einsetzen, ungeachtet der Tatsache, dass ihr Staat die Krise, geschaffen durch oft unzweckmäßige politische Führung in den Jahren der Unabhängigkeit, noch nicht überwunden hat. 
Wer hier erwartet, dass ich die Verantwortung allein dem geflohenen Herrn Janukowitsch zuordne, geht verkehrt. Ich bleibe bei meiner im Satz darüber geäußerten Meinung, da der erste Präsident der Ukraine nach Zerfall der Sowjetunion selbst im Fernsehen sagte: "An dieser Situation sind wir alle Schuld!" Seine Präsidenten-Kollegen schauten dazu betreten in die Talk-Runde der Vier. 

Zurück zu den Volontären. Ein Beispiel für viele. Einprägsam, so dass es für russische Politiker eine Warnung sein könnte. Ein Ehepaar aus dem ukrainischen Mittelstand gab sein Geschäft an andere. Opferte einen großen Teil seiner Ersparnisse für an der Front notwendige Dinge. Der Mann wurde "Voll-Volontär" in meiner Auffassung. Er kämpft als Freiwilliger. Seine Frau ist bei der Einheit bekannt - sie versorgt diese als ebenso achtenswerter Volontär. Hier könnten noch viele Beispiele zu lesen sein. Das änderte nichts daran, dass trotz beginnendem Schneetreiben auch heute wieder die Volontäre ihre sich selbst auferlegte Pflicht verantwortungsbewusst erfüllen werden. Wünschen wir ihnen Erfolg und dass ihr aufopferungsvoller "Dienst an der Heimat" in dieser Form bald unnötig wird. 
Frieden und Gesundheit ihnen allen!

Bleiben auch Sie recht gesund!

Ihr

Siegfried Newiger




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Freitag, 21. November 2014

Alternativen?

Die wesentlichsten Entscheidungen zum erklärten Beginn ukrainischer Reformpolitik sind gefallen. Der neue Präsident handelt aus meiner Sicht vernünftig. 
Es existiert ein neues Parlament. Auch eine neue Regierung wird es bald geben. Selbst an den äußeren Bedingungen hat sich einiges positiv verändert. 
Allerdings ist der unerklärte Krieg in der Ostukraine mit der dort sehr deutlich nachweisbaren aktiven russischen Unterstützung noch immer nicht beendet. Wenn die USA aller Wahrscheinlichkeit nach in absehbarer Zeit für die ukrainischen Streitkräfte modernste Waffen liefern werden, weitet sich der Konflikt auch noch zu einem Versuchsfeld für Militärtechnik aus. Das lässt die "Hinauszögerung" eines friedlichen Endes durch politisch einsichtige Handlungen für mich noch wahrscheinlicher werden. Weil die Hintermänner des Konfliktes und die beteiligten militärindustriellen Konzerne auf möglichst viel auswertbare Ergebnisse (Tote, Verwundete, Zerstörungen...) warten. 
Dazu kommt die ökonomisch sinnvolle Verweigerung der ukrainischen Seite für Zahlung von Gehältern, Löhnen und Renten an Bewohner der Gebiete, welche vom Krieg überzogen sind. "Wer den Separatisten und ihren Helfershelfern folgt, soll sich von denen auch den versprochenen Lebensunterhalt sichern lassen." Sinnvoll, um inneren Widerstand zu provozieren. Der schon merkbar wurde. Unverantwortlich, wenn man die vielen Menschen betrachtet, welche die Kampfgebiete nicht verlassen können...  
Habe ich, haben Sie Alternativen?

Der Aufruf in Medien nach neuen Sanktionen, z. B. nach einem zeitweiligen Überflugverbot europäischer Staaten für russische Zivilflugzeuge, könnte nach Verwirklichung solche Präzedenzfälle schaffen, welche ihren heutigen Befürwortern morgen auf die eigenen Füße fallen. Wie immer wird vergessen, dass in unserer Welt immer die Polarität wirkt, jede Medaille zwei Seiten hat.

Morgen will ich etwas zu den Volontären posten. Sie sind die hier gegenwärtig am häufigsten genannten und auch wirkungsvoll handelnden Persönlichkeiten.

Bleiben Sie recht gesund!

Ihr

Siegfried Newiger 




 

Sonntag, 16. November 2014

Troubadur in Odessa

Am 11. November waren wir in Kiew, um nacheinander einige Freunde zu treffen, ebenfalls sachliche Dinge zu klären und außerdem den Busfahrschein nach Odessa zu kaufen. 
Unsere Freundin Xenia berichtete von ihrem Weg in die Ferne - sie hat in Lugansk ihr eben endlich bezahltes kleines Haus verlassen, ihren Eltern in Obhut gegeben und ist mit Familie in die Nähe von Kiew geflohen. Von ihr habe ich erfahren, welche Einbußen sie und Freunde sowie Verwandte durch die "regulierenden Maßnahmen" der Separatisten und ihrer Hintermänner erlitten. 
Auch die relativ hohe Beteiligung an den "Wahlen" wurde durch die gleichzeitige Koppelung an die Vergabe von Rentenberechtigungen, Lebensmittelkarten und außerdem von Berechtigungsscheinen für medizinische Behandlung erreicht. 
Perfider geht es bald nicht mehr. Personen, die nichts anderes sein wollen als ukrainische Staatsangehörige, die sie bisher waren - also nicht zu den Wahlen gingen, werden ökonomisch abgestraft! Sollen sie durch Hunger und fehlende medizinische Betreuung langsam und sicher die ukrainische Diaspora ausdünnen?

Mit meinen Freunden in Odessa, bei denen ich seit dem Abend des 13. November zu Gast bin, herrscht auch eine angespannte Stimmung. Sie haben ebenfalls Familien aus den Krisenregionen in der Nähe und authentische Informationen zu den Bedingungen dort vor Ort. Aber sie wollten dem Gast doch etwas mehr bieten als nur politische Gespräche. 
Nach einem Spaziergang auf einer Uferstraße parallel zum Badestrand "Lansheron", gingen wir in das dem Cafe "Mozart" gegenüber gelegene Cafe "Salerie". 
Die bestellten Getränke und Desserts waren vom Feinsten. Ich hatte einen Sanddornbeeren-Tee mit frisch gepressten Sanddornbeeren darin - köstlich. 
Anschließend begaben wir uns rechtzeitig in das nahe gelegene Opernhaus. Architektonisch entworfen von einem Wiener Architektenbüro. Die Innenräume im Rokoko-Stil, für mich zwar beeindruckend, aber nicht extrem herrlich.  Die Besucher zahlreich und unter ihnen viele Jugendliche. Positiv. Zur Qualität der Vorstellung: die meisten Solisten, Chöre und Orchester erstklassig, insgesamt ein Erlebnis.

In der Mitte der Aufführung etwa blitzartig ein gedanklicher Vergleich. Auf der Szene die Forderung, jemanden zu töten, blitzende Schwerter wurden geschwenkt. Die Gedanken fliegen über hunderte von Kilometern. Dort in den Gebieten von Lugansk und Donezk liegen die Jungen frierend in Schützengräben mit dem Auftrag, andere gegenüber zu töten. Hier künstlerische Erhöhung der Spannung - dort blutige Wirklichkeit. Eine bizarre Gedankenverbindung. 

Bleiben Sie recht gesund!

Ihr

Siegfried Newiger




 

Sonntag, 9. November 2014

Einigkeit und Recht und Freiheit...


Es werden immer weniger von denen, die wahrhaft Bilanz ziehen können. Weil sie sowohl Beginn als auch Ende eines geschichtlichen Abschnitts bewusst erlebt haben. Was dennoch viel wichtiger ist: sind sie dazu bereit, eine möglichst durch ganz persönliche Vorlieben unverfälschte Einschätzung zu geben? Da habe ich selbst an mir so meine Zweifel… 

Etwa eine Woche vor der berühmt-berüchtigten Erklärung zur „Reisefreiheit“ von Günter Schabowski aus dem Zentralkomitee der SED fuhr ich abends an einem Sonntag durch Berlin-Weißensee. Zu einer Zeit, als selbst die absoluten Hardliner der „Partei“ in der DDR von den Montagsdemonstrationen in Leipzig und anderswo wussten. Als die Öffnung der Westgrenzen in Ungarn geschehen war. Danach Züge voll „DDR-Übersiedlern“ aus den im „Warschauer Vertrag“ verbündeten Ländern in die Alt-Bundesländer fuhren.
In einem Hauseingang sah ich zwei Schüler unserer Berufsschule mit brennenden Kerzen in den Händen stehen. Zwei von jenen, die sich gewöhnlich nicht äußerten, wenn die Diskussion auf politische Vorgänge kam – beispielsweise im „Lager für vormilitärische Ausbildung“, in das Lehrer und Schüler der Betriebsberufsschule regelmäßig jedes Jahr einmal im Spätherbst fuhren. Zwei Tage später bekam ich von einem Kollegen den Aufruf des Neuen Forum´s – obwohl ich ehemals Offizier war und Mitglied der SED. Ein Vertrauensbeweis?

Zur Großdemonstration am 04. November 1989 war ich gegangen. Es ging mir wie vielen in der Kolonne um eine „bessere DDR“. Aber auch die Variante „Deutsche Einheit“ habe ich wie viele überlegt, jedoch nicht gefordert. 

Die DDR war das Land der Jugend jedes Einzelnen, der in ihm geblieben war. Der Staat an dessen Lebens-Bedingungen sich die meisten seiner Bürger mehr oder minder geschickt angepasst hatten. Ich unter ihnen. Wie heute hier und überall. 
Die Revolutionäre sind immer wenige. Ihre Vorstellungen sind wohl hin und wieder neu – nur nicht so umzusetzen, wie ausgedacht. Denn die Organisation des staatlichen, gesellschaftlichen Zusammenlebens geht am Ende immer auf die „Staatsgewalt“ hinaus, welche laut Grundgesetzen und Verfassungen fast in aller Welt demokratisch „vom Volk“ ausgeht. 
Wenn dann jedoch „das Volk“ zu regieren beliebt, gibt es die „aktive Kritik“ von der Straße. Selten von Sachkenntnis geprägt, vorwiegend von unerfüllbaren Wünschen. 

Die Nacht vom 09. November zum 10.11.1989 war die vieler Illusionen. Nach der Sondermeldung im Fernsehen von 19.43 Uhr. Überschäumende Freude nicht nur am Grenzübergang Bornholmer Straße, und nicht nur in Berlin damit verbundene Erwartungen.

Meine Töchter waren ungeduldig, gingen mit Erlaubnis in den Westen, kamen müde und mit weniger Knöpfen an ihren Mänteln zurück. „Wie billig dort der Bohnenkaffee ist und die Strumpfhosen.“ „In einiger Zeit werden Mieten und anderes das Geld für teurer werdenden Kaffee und auch Strumpfhosen schon auffressen.“ „Bei deiner Vergangenheit musst du ja meckern.“ 

Die Ernüchterung hat eine Generation gedauert, die 25 Jahre bis heute. 
Denn in aller Welt war niemand auf diesen Sprung in der Entwicklung vorbereitet. Nach eigenen, heute vergessenen Bemerkungen hatte auch die Bundesregierung kein Konzept für eine solche überraschende Situation. Das alte Rezept hieß aktuell, dass im Osten blühende Landschaften geschaffen würden. Und das erwartungsvolle Volk glaubte auch an diese Version – wie vorher lange an die vom selig machenden Sozialismus. 

Hat sich inzwischen auch mit nicht mehr so verschleierter Arbeitslosigkeit abgefunden. Die höher ist als in den so genannten „alten Bundesländern“. Weil für die blühenden Landschaften viele uralte Fabriken geschleift werden mussten. 

Ja, es gibt jene, die durch Helfer im Machtapparat der DDR Unrecht erlitten. Allerdings wird übersehen, dass wesentlich mehr Bürger in der DDR auch durch staatlich gelenktes Recht nicht gelitten haben. Sondern gelebt. Mit allen Sorgen und Freuden eines menschlichen Lebens. 
Übersehen wird, dass mit „Gott Westgeld“ (heute Euro) nette kleine Anhängsel zu den erklärten „westlichen Werten“ Freiheit und Demokratie dazu kamen wie wachsende Armut, Pornographie, Prostitution, Drogenkonsum, Kidnapping, Terrorismus  und dergleichen. Aber Licht ist ohne Schatten eben nicht zu haben. Gewöhnliche Physik. 

Nun wird in meiner Ehefrau Heimatland erneut eine Mauer errichtet. Um zwei slawische Staaten gegeneinander abzuschotten. Für ein Vierteljahrhundert reicht meine Lebenskraft nicht mehr. Aber ich bin sicher, dass diese durch unvernünftiges Handeln einer Seite des Konflikts in der Ostukraine provozierte Abgrenzung eines Tages fällt. Unnötig war aus vernünftiger Sicht. Aber erforderlich im Zwischenstadium, welches diese Situation charakterisiert. 

Bleiben Sie recht gesund! 

Ihr 

Siegfried Newiger

P. S. vom 10.11.2014, morgens

Natürlich hätte ich besser formulieren müssen. In der Ukraine wird nicht erneut eine Mauer aufgebaut. Fehlende Grenzbefestigungen nach Nordosten haben die heutige Situation für Separatisten und deren Hintermänner begünstigt. Deshalb wird in der Welt erneut eine Mauer gebaut. Diesmal in der Ukraine.  

S. Newiger