Montag, 3. Dezember 2012

Verlegte Hauptstadt...



Dieser kleine Artikel ist mir zugestellt worden. Ohne Hinweise auf den Autor. Allerdings im Rahmen der Informationen auf meiner letzten Reise in Moskau eine sehr interessante Notiz. Ich verwende sie – gekürzt und bearbeitet. So, dass es dem Autor schwer fallen sollte, juristische Haken zu finden.

            „Wohin fliegst du, mein Bester?“ fragte ich meinen Bekannten, einen amerikanischen Rechtsanwalt, den ich auf dem Kennedy-Flughafen in New York traf. „In die russische Hauptstadt“. „Bleibst du lange in Moskau?“ Die Antwort: „Ich fliege nach London.“ „Die Hauptstadt Russlands ist Moskau.“ „Ich sagte dir doch: ich fliege nach London. Das ist die russische Hauptstadt. Auch wenn man das so öffentlich nicht sagt.“
            Mein Flug wurde angekündigt. Ich checkte ein, ging an Bord. Bestellte ein Getränk und fiel ins Grübeln. Nach der dritten „Bloody Mary“ sagte ich mir: „Der amerikanische Kollege hat Recht!“
            Die russische Diaspora in London – das sind reiche oder sogar sehr reiche Leute – einige hunderttausend. Die Frauen und Kinder der überwiegenden Gesellschaft von so genannten Oligarchen, aber auch der obersten Schicht des Beamtentums wohnen in London. Der erdrückendste Teil russischer Gelder, welche aus dem Erdöl- und Erdgas-Geschäft stammen, liegen auf Konten bei britischen Banken. Das sind etwa drei Viertel des russischen Exportvolumens.
            Die Oligarchen selbst und die Lenker der gewaltigsten Firmen verbringen einen großen Teil ihrer Zeit in London. Sie lenken ihre Imperien von dort, obwohl sich jene in Russland befinden. Sollte das bestohlene erboste russische Volk einmal zum Sturm auf die „Rubljowka“ antreten – die Straße der Superreichen in Moskau – es würde leere Villen vorfinden.
            Im 20. Jahrhundert stürzten das britische und das russische Imperium – die über Jahrhunderte gegeneinander wirkten – offiziell das auch heute tun. Plötzlich, ganz unerwartet und heimlich, wurde die Hauptstadt des englischen Imperiums auch zu der des russischen: echt surrealistische Realität. Darüber könnte Bunuel eben jetzt einen Film drehen. Oder einen Blockbuster aus Hollywood oder Deutschland müsste man erwarten. Es wäre auch schlau, einen Roman zum Thema zu schreiben – mit Millionenauflagen in allen Sprachen der Welt.
Allerdings bin ich das nicht – ich versuche nur, den gerissenen roten Faden nicht zu verlieren. London – Russlands Hauptstadt!...
Wie kam es dazu? Doch nicht, weil das Bildungsniveau in Großbritannien traditionell hoch ist, also der Grund ist trivial – die Sorge um die eigenen Kindlein (wie in der russischen Presse offiziell dem Volk vorgelegt wird). Und nicht deshalb, weil man in London gewöhnt ist, entfernte Territorien zu lenken (die Zunge wehrt sich zu sagen, dass eine Supermacht des 20. Jahrhunderts zur Kolonie Londons wurde – denn das ist nicht so, zumindest noch nicht…). Auch spielt keine Rolle, dass für Leute mit dickem Konto das Leben in England angenehmer und harmonischer ist.
Sondern auch deshalb, weil London seine Bürger an andere Staaten nicht ausliefert. Die Tatsache, dass das britische Rechtssystem Beresowski trotz vielfacher und dringlicher Aufforderungen der russischen Staatsanwaltschaft nicht ausliefert, ruft offiziell Proteste der russischen Machtorgane hervor, sachlich gesehen – Beruhigung bei der russischen Elite: so ein Land passt uns! (hat die herrschende Klasse entschieden).        
Wenn das russische Volk (das „lange anspannt, dafür aber rascher fährt“) eines schönen Tages auf die Idee kommt, die „Absahner“ nicht nur zu enteignen, gibt England sie einfach nicht heraus. Genauer: die Wahrscheinlichkeit dessen, dass England seine Bürger ausliefert (und auch seine noch-nicht-Bürger, welche einen Aufenthaltstitel für das englische Königreich haben – das sind Minister, Gouverneure, Beamte aller Ränge, deren Frauen und Kinder fast alle schon britische Bürger sind), ist geringer als in einem beliebigen anderen Land auf dieser Welt.
            Mit einer Ausnahme – Israel. Allerdings wäre für jeden noch so an Absonderlichkeiten gewöhnten Bürger des Heiligen Russland die Idee, Israel zur Hauptstadt Russlands zu machen, wohl das Absurdeste von allem. Wenn plötzlich der Iran eine Atombombe dort abwirft?
Das Leben im Heiligen Land nervt ganz schön, noch mehr, als das auf der heiligen Erde Russlands. In Großbritannien ist die Ruhe gesichert. Und deshalb hat die herrschende Klasse Russlands nach oben genannten mehreren Merkmalen England als Wohnort auserkoren. Lenkt Russland von dort. Auch den Großteil ihres Kapitals bewahrt sie dort auf. Käme es in der Föderation zu einer Revolution – das erschüttert die herrschende Klasse nicht eine Winzigkeit. Na ja, vielleicht werden die Villen an der „Rubljowka“ ausgeraubt, deren Bewohner – nicht dort gemeldet, aber physisch anwesend – sind doch nur Security und Dienstboten. Jedoch mehr von den „abgeschöpften“ Geldern zu nehmen, gelingt nicht. Und auch an die „Absahner“, die zu russischen Machtstrukturen gehören und sich in London aufhalten, kommt man ganz einfach nicht heran.

            Der Ausdruck des Rechtsanwalt aus dem Etablissement, der ohne eine Spur von Ironie formulierte, dass LONDON RUSSLANDS HAUPTSTADT ist, welcher in seinen Kreisen anscheinend als selbstverständlich angesehen wird, ist in jedem Falle als Fakt unbestreitbar.

            Zu Beginn des zweiten Jahrzehnts im einundzwanzigsten Jahrhundert ist London die Hauptstadt Russlands. Das muss man deutlich verstehen. Wie darauf zu reagieren ist, dass sich die Hauptstadt Russlands außerhalb Russlands befindet (dieses Geheimnis Policinellos ist nur in der Föderation unbekannt), wie das darzustellen und wie die entstandene Situation zu ändern wäre – das entscheide ich nicht.

No comment!

Bleiben Sie recht gesund!

Ihr

Siegfried Newiger






Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen