Sonntag, 10. Juli 2016

Widersprüchlich



Die ukrainische innere Situation ist sehr widersprüchlich. Genauer: die Wahl des Ausgangspunktes durch den Betrachter und seine eigene Zielstellung haben sehr viel Einfluss auf seine Schlussfolgerungen. 
Das ist auch in anderen Zusammenhängen für andere Anlässe in jedem beliebigen Land der Fall. Wer einen so „freien“ Zugang wie zu Schusswaffen in den USA zulässt, braucht sich über Ereignisse wie in Dallas letzte Woche nicht zu wundern. 

Das hier von der Werchowna Rada verabschiedete Gesetz zur verdoppelten Anrechnung der Untersuchungshaft auf die Zeit der Gesamtstrafe hat – wie eindeutig vorher nicht bedacht – zur vorzeitigen Amnestie für viele Gesetzesbrecher geführt. Die deutlich die kriminogene Situation belasten. Denn die U-Haft wird aus hier üblicher Lässigkeit und anderen Gründen nicht selten außergewöhnlich lange ausgedehnt.

Weil ein anderes Gesetz – das über die „Lustration“ (von Lüster, der hellen Lampe, also zur Aufhellung – der persönlichen Einkommensverhältnisse und von Verstrickungen der ehemaligen Macht ausübenden Personen) zur Entlassung von vielen nicht immer schuldigen Fachkräften aus allen Rechtsbereichen einschließlich Miliz geführt hat, verschlimmert das die Lage noch. 
Dass dieses Gesetz inzwischen vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als die Menschenrechte verletzend eingestuft wurde, macht die auf seiner Basis erfolgten Entscheidungen (und Fehlentscheidungen) nicht automatisch alle zu Fehlentscheidungen und damit unwirksam. Sondern erhöht den Wirrwarr noch weiter. 

Zwar werden, um den Bedingungen des IWF im Kampf gegen Bestechlichkeit zu genügen, in letzter Zeit besonders viele mit großen Summen aktuell Bestochene in hohen staatlichen Funktionen festgenommen – wie gerade erst der stellvertretende Gesundheitsminister und andere – nur beruhigt das alles die „Volksseele“ nicht so recht.  
Denn die angekündigte drastische Erhöhung der Tarife für Gas, Elektroenergie, Trink- und Abwasser sowie der zu beachtende schleichende Anstieg aller Verbraucherpreise infolge der Abwertung des Hrywna beunruhigt die Menschen weit mehr. 
Auch wenn aus den Reihen verantwortlicher Politiker gesagt wird, dass das Budget des Landes sogar die Erhöhung der Zahl von Subsidien-Empfängern auf neun Millionen Familien aushalten wird, trägt nicht zur Verbesserung der Stimmung bei. Das würde bedeuten, dass mehr als die Hälfte aller Haushalte am staatlichen Tropf hängen... 
Als Beispiel dient mir ein relativ gut verdienender junger Mann, der nach einem Besuch des Basars und dort getätigten soliden Einkäufen im Gespräch laut werden ließ: „Wie kann man mit so wenig Geld auf den Basar gehen?“ Er hatte zuvor geschildert, wie eine Rentnerin den Preis für ein Produkt hatte weit herunterhandeln wollen. 
Mir scheint, dass die Abgeordneten der Rada, die sich soeben erst Erhöhung ihrer Bezüge „genehmigt“ haben, von den Bedürfnissen ihrer Wähler ähnlich meilenweit entfernt leben. 
Diese Diätenerhöhung hat der schon in meinem Post 
http://mein-ostblock.blogspot.com/2016/06/hier-europa-bauen.html als realpolitisch denkend charakterisierte Abgeordnete Vadim Rabinovich als zutiefst verwerflich verurteilt. 

Das Verschwinden der Ordnungskräfte auf den Straßen (Verkehrspolizei, die sich auch bestechen ließ) hat zum drastischen Anstieg der Verkehrsunfälle um 30 % in 2015 geführt. Ob das Gesetz zur Strafverschärfung bei Trunkenheit am Steuer, das soeben verabschiedet wurde, da Abhilfe bringt, bleibt abzuwarten. 
Denn in der Ukraine sind selbst Geistliche nicht gegen Fehlentscheidungen immun. Wer angeregt wird, bei Google unter Cucuteni-Tripolje-Kultur zu suchen, wird erstaunt erfahren können, dass auf ukrainisch-rumänischem Gebiet Ausgrabungen auf dem Gebiet einer Kultur erfolgten, die nachweislich schon rund 500 Jahre vor Bau der ägyptischen Pyramiden existierte. 
Auf dem Gelände eines Klosters im Gebiet Rovno (Rivne) gibt es gegenwärtig ein unikales Grabungsfeld mit einer Töpferwerkstatt aus genannter Zeit. Die Klosterväter sind gegen den Widerstand der heimischen Archäologen gewillt, diese Fundstelle zuschütten zu lassen, um auf ihr den Parkplatz für Klosterbesucher einzurichten. Ist man gegen die Grabung, weil das damals „Heiden“ waren? 

Bleiben Sie recht gesund! 

Ihr 

Siegfried Newiger





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