Zur gewöhnlichen
Ukraine gehören aber noch andere als in meinem ersten Post geschilderte
Vorgänge und Eindrücke.
Während der
recht bedeutende Export von Bienenhonig normal verläuft, ist der von Bernstein
sehr umstritten. Denn der Abbau in den wolhynischen Gebieten ist gesetzlich
nicht ausreichend geregelt. Die damit illegale Grabung durch die meist
arbeitslose und folglich zum ungesetzlichen Erwerb regelrecht gezwungene Bevölkerung bringt aber die
begehrten Fundstücke nicht zu gesetzestreuen Exporteuren, sondern zu
mafiaähnlichen Strukturen. Versuche zur Änderung sind bisher zögerlich.
Geschmuggelt wird aber nicht nur Bernstein, sondern Zigaretten und Alkohol
(samogon, Selbstgebrannter). Die Erlöse im Handel des „kleinen Grenzverkehrs“
sind offensichtlich ausreichend, um ihn durch die ukrainischen „Kleinschmuggler“
nicht für länger zu unterbrechen. Die deswegen relativ gründlichen Kontrollen
der polnischen Zöllner sorgen dafür, dass wir den direkten Grenzübergang bei
der Ausreise aus der Ukraine per Auto mit mindestens zwei Stunden einplanen,
gewöhnlich vier bis sechs Stunden brauchen.
Das sind geringe Zeiten gegen die
einmal im Winter bei der Einreise ins Land vertanen 26 Stunden bei minus 20
Grad – aber dennoch unangenehm.
Eins ist deutlich: an der Verbesserung der
Straßenverhältnisse wird gearbeitet. Den vor allem deutschen Kritikern gebe ich
gewöhnlich zu bedenken: die Ukraine ist flächenmäßig rund doppelt so groß wie
Deutschland, hat etwa die Hälfte an Bevölkerung. Nur auf die Straßen bezogen
erfordern diese Verhältnisse je ukrainischem Haushalt die vierfachen
Aufwendungen jener, die in der Bundesrepublik nötig sind. Wo sollen diese
Mittel herkommen?
Denn aus der Sowjetzeit sind noch die Wohnungsprobleme
geblieben – wenn auch nicht mehr so krass, wie sie Michael Bulgakow in „Der
Meister und Margarita“ darstellte.
Die Frage nach den finanziellen
Möglichkeiten stößt auf das Bankensystem. Wo für Einlagen heute Zinsen zwischen
20 und 25 % versprochen werden, können Kredite nicht billiger sein. Also stellt
sich für jeden nur schwach wirtschaftlich gebildeten Menschen die berechtigte Frage:
wie werden diese Zinsen (Geldkosten) erarbeitet, wenn in den Industriestaaten
dieser Welt sogar schon Negativzinsen im Gebrauch sind?
Bekannte, die eine Wohnung
kaufen wollten, haben bei dem Krach zweier Banken alle ihre angesparten, zeitweilig
gut vermehrten Summen verloren…
Weil wir bei Geld sind: die neu geschaffene ukrainische
Agentur gegen Bestechlichkeit hat Hochbetrieb. Es ist schon nicht mehr
erstaunlich, in welchen Chefetagen und darunter erkleckliche Summen ergaunert
werden. Gegen Dienstleistungen aller, auch krimineller Art. Wobei das
Unrechtsbewusstsein überall nur dann entwickelt ist, wenn man selbst zahlen
soll. Als der ehemalige Ministerpräsident Lasarenko mit hunderten von Millionen
US-Dollar in den USA wegen Geldwäsche verurteilt wurde, kamen wir in einem
Gespräch mit vernünftigen Leuten auf diese Affäre. Als ich fragte, wie ein sehr
reger Kritiker handeln würde, wenn er ähnliche Möglichkeiten hätte, sagte
dieser: „Mit dem Gepäck würde ich nicht in die USA reisen.“ Kein Kommentar.
Leider höre ich hier
nicht selten Beschwerden über die medizinische Versorgung. Habe aber persönlich
drei Operationen in dem Semaschko-Krankenhaus vor Ort erlebt und bin mit den
Ergebnissen sehr zufrieden. Habe nach der letzten im Abschlussgespräch auch
formuliert, dass ich beide Ärzte für ausgezeichnete Handwerker halte. Sah an
ihren Minen, dass ich daneben lag. Erinnerte mich, dass jemand mal formulierte,
der Begriff sei für Pfuscher üblich. Habe einige Mühe gehabt zu erläutern, dass
die deutsche Lesart dieses Worten etwas mit hoher Qualität und Ehrenhaftigkeit
zu tun hat. Bin aber wohlwollend angenommen worden.
Es können aber eine Reihe von
Behandlungen nur gegen Bezahlung erfolgen und nicht immer sind alle optimalen Medikamente
verfügbar. So war in der vorigen Woche im ganzen Land außer einigen wenigen
Ampullen voll am Rande der Verbrauchsdauer kein Serum gegen Tollwut zu haben. Die
verfögbaren bekam das von einer tollwütigen Katze gebissene Mädchen – andere Kontaktpersonen
konnten nicht geimpft werden.
Am 13. Juli 2016
hat der Leiter des Herzzentrums in Charkow Boris Todurow mitgeteilt, dass am
Vortag einem schwer erkrankten Bürger in der Ukraine erstmalig ein künstliches
Herz implantiert wurde. Die fachliche Vorbereitung hätte in Deutschland
stattgefunden und Prof. Christoff Schmidt hätte das Team unterstützt.
Für mich
erneut ein Beweis, dass die fachärztlichen Voraussetzungen sehr gut sind. Was allerdings
Herrn Todurow nicht davon abhielt, die mangelhafte ukrainische Gesetzgebung im
Bereich Organtransplantation öffentlich zu kritisieren. Er ging nicht so weit
wie ein ebenfalls hochqualifizierter Kollege, der diesbezüglich in einer
Unterhaltung formulierte: „Diese Gesetzgebung ist so veraltet, dass sie die
heute mögliche operative ärztliche Hilfeleistung für ernsthaft Kranke
verhindert.“ Kein Kommentar.
Wer möchte, kann
sich bei Wikipedia über den Naturpark Askanija Nowa informieren – ein mit
deutscher Hilfe geschaffenes Kleinod in der Chersoner Steppe. Auch das ist für
mich Ukraine. Oder über die Tripolje-Kultur, von der die wenigsten wissen, dass
ihre ersten Bauten in Nähe der Dnepr-Ufer etwa 500 Jahre vor dem Auftürmen der
ersten ägyptischen Pyramiden entstanden.
Als ich diese
Aufzählung einmal einem waschechten Ukrainer vortrug, der etwas abfällig über
sein Vaterland sprach, reagierte der mit ukrainischem Humor: „Höre auf! Sonst erklärst
du mir noch, dass unsere Vorfahren das Schwarze Meer ausgehoben und aus den Erdmassen
den Kaukasus aufgeschüttet haben.“
Bleiben Sie recht
gesund!
Ihr
Siegfried Newiger
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