Dienstag, 19. Juli 2016

Gewöhnliche Ukraine II



Zur gewöhnlichen Ukraine gehören aber noch andere als in meinem ersten Post geschilderte Vorgänge und Eindrücke.   
Während der recht bedeutende Export von Bienenhonig normal verläuft, ist der von Bernstein sehr umstritten. Denn der Abbau in den wolhynischen Gebieten ist gesetzlich nicht ausreichend geregelt. Die damit illegale Grabung durch die meist arbeitslose und folglich zum ungesetzlichen Erwerb regelrecht gezwungene  Bevölkerung bringt aber die begehrten Fundstücke nicht zu gesetzestreuen Exporteuren, sondern zu mafiaähnlichen Strukturen. Versuche zur Änderung sind bisher zögerlich. 
Geschmuggelt wird aber nicht nur Bernstein, sondern Zigaretten und Alkohol (samogon, Selbstgebrannter). Die Erlöse im Handel des „kleinen Grenzverkehrs“ sind offensichtlich ausreichend, um ihn durch die ukrainischen „Kleinschmuggler“ nicht für länger zu unterbrechen. Die deswegen relativ gründlichen Kontrollen der polnischen Zöllner sorgen dafür, dass wir den direkten Grenzübergang bei der Ausreise aus der Ukraine per Auto mit mindestens zwei Stunden einplanen, gewöhnlich vier bis sechs Stunden brauchen. 
Das sind geringe Zeiten gegen die einmal im Winter bei der Einreise ins Land vertanen 26 Stunden bei minus 20 Grad – aber dennoch unangenehm. 

Eins ist deutlich: an der Verbesserung der Straßenverhältnisse wird gearbeitet. Den vor allem deutschen Kritikern gebe ich gewöhnlich zu bedenken: die Ukraine ist flächenmäßig rund doppelt so groß wie Deutschland, hat etwa die Hälfte an Bevölkerung. Nur auf die Straßen bezogen erfordern diese Verhältnisse je ukrainischem Haushalt die vierfachen Aufwendungen jener, die in der Bundesrepublik nötig sind. Wo sollen diese Mittel herkommen? 
Denn aus der Sowjetzeit sind noch die Wohnungsprobleme geblieben – wenn auch nicht mehr so krass, wie sie Michael Bulgakow in „Der Meister und Margarita“ darstellte. 
Die Frage nach den finanziellen Möglichkeiten stößt auf das Bankensystem. Wo für Einlagen heute Zinsen zwischen 20 und 25 % versprochen werden, können Kredite nicht billiger sein. Also stellt sich für jeden nur schwach wirtschaftlich gebildeten Menschen die berechtigte Frage: wie werden diese Zinsen (Geldkosten) erarbeitet, wenn in den Industriestaaten dieser Welt sogar schon Negativzinsen im Gebrauch sind? 
Bekannte, die eine Wohnung kaufen wollten, haben bei dem Krach zweier Banken alle ihre angesparten, zeitweilig gut vermehrten Summen verloren… 

Weil wir bei Geld sind: die neu geschaffene ukrainische Agentur gegen Bestechlichkeit hat Hochbetrieb. Es ist schon nicht mehr erstaunlich, in welchen Chefetagen und darunter erkleckliche Summen ergaunert werden. Gegen Dienstleistungen aller, auch krimineller Art. Wobei das Unrechtsbewusstsein überall nur dann entwickelt ist, wenn man selbst zahlen soll. Als der ehemalige Ministerpräsident Lasarenko mit hunderten von Millionen US-Dollar in den USA wegen Geldwäsche verurteilt wurde, kamen wir in einem Gespräch mit vernünftigen Leuten auf diese Affäre. Als ich fragte, wie ein sehr reger Kritiker handeln würde, wenn er ähnliche Möglichkeiten hätte, sagte dieser: „Mit dem Gepäck würde ich nicht in die USA reisen.“ Kein Kommentar. 

Leider höre ich hier nicht selten Beschwerden über die medizinische Versorgung. Habe aber persönlich drei Operationen in dem Semaschko-Krankenhaus vor Ort erlebt und bin mit den Ergebnissen sehr zufrieden. Habe nach der letzten im Abschlussgespräch auch formuliert, dass ich beide Ärzte für ausgezeichnete Handwerker halte. Sah an ihren Minen, dass ich daneben lag. Erinnerte mich, dass jemand mal formulierte, der Begriff sei für Pfuscher üblich. Habe einige Mühe gehabt zu erläutern, dass die deutsche Lesart dieses Worten etwas mit hoher Qualität und Ehrenhaftigkeit zu tun hat. Bin aber wohlwollend angenommen worden. 
Es können aber eine Reihe von Behandlungen nur gegen Bezahlung erfolgen und nicht immer sind alle optimalen Medikamente verfügbar. So war in der vorigen Woche im ganzen Land außer einigen wenigen Ampullen voll am Rande der Verbrauchsdauer kein Serum gegen Tollwut zu haben. Die verfögbaren bekam das von einer tollwütigen Katze gebissene Mädchen – andere Kontaktpersonen konnten nicht geimpft werden.  

Am 13. Juli 2016 hat der Leiter des Herzzentrums in Charkow Boris Todurow mitgeteilt, dass am Vortag einem schwer erkrankten Bürger in der Ukraine erstmalig ein künstliches Herz implantiert wurde. Die fachliche Vorbereitung hätte in Deutschland stattgefunden und Prof. Christoff Schmidt hätte das Team unterstützt. 
Für mich erneut ein Beweis, dass die fachärztlichen Voraussetzungen sehr gut sind. Was allerdings Herrn Todurow nicht davon abhielt, die mangelhafte ukrainische Gesetzgebung im Bereich Organtransplantation öffentlich zu kritisieren. Er ging nicht so weit wie ein ebenfalls hochqualifizierter Kollege, der diesbezüglich in einer Unterhaltung formulierte: „Diese Gesetzgebung ist so veraltet, dass sie die heute mögliche operative ärztliche Hilfeleistung für ernsthaft Kranke verhindert.“ Kein Kommentar.

Wer möchte, kann sich bei Wikipedia über den Naturpark Askanija Nowa informieren – ein mit deutscher Hilfe geschaffenes Kleinod in der Chersoner Steppe. Auch das ist für mich Ukraine. Oder über die Tripolje-Kultur, von der die wenigsten wissen, dass ihre ersten Bauten in Nähe der Dnepr-Ufer etwa 500 Jahre vor dem Auftürmen der ersten ägyptischen Pyramiden entstanden. 

Als ich diese Aufzählung einmal einem waschechten Ukrainer vortrug, der etwas abfällig über sein Vaterland sprach, reagierte der mit ukrainischem Humor: „Höre auf! Sonst erklärst du mir noch, dass unsere Vorfahren das Schwarze Meer ausgehoben und aus den Erdmassen den Kaukasus aufgeschüttet haben.“

Bleiben Sie recht gesund! 

Ihr 

Siegfried Newiger







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