Freitag, 22. Juli 2016

Gewöhnliche Ukraine III



Dieser Post beendet meine kurze Serie zur Ukraine im Alltag. 
Als mich die um meine Beine besorgte Frau (http://mein-ostblock.blogspot.com/2016/07/gewohnliche-ukraine.html ) heute fragte, wieso ich denn hier im Lande bliebe, sagte ich ihr meine Wahrheit. Für mich ist es in der Ukraine noch psychologisch wärmer als in Deutschland – mit abnehmender Tendenz.
Das nicht, weil betont nationalistische Tendenzen stark zunehmen, sondern weil die Aufpfropfung der westeuropäischen und der sie dominierenden amerikanischen Lebensweise eine  der slawischen Mentalität fremde Komponente in das hiesige Leben bringt. Dazu die seit Jahren zu beobachtende Unterordnung der staatlichen Stellen unter einen recht eigenartigen Demokratie-Begriff. 
Heute hat Premier Groismann das Fazit der ersten hundert Tage seiner Amtsübernahme mit einigen positiven Zahlen gezogen. Vorher hatte ein Invaliden-Rentner, Teilnehmer an den Kämpfen in der Donbass-Region, im Fernsehen zur Medikamentenversorgung gesprochen. Vor allem, dass die verfügbaren nicht wie versprochen billiger geworden sind, sondern ein Drittel seiner Rente verschlingen. Der ehemalige stellvertretende Wirtschaftsminister kommentierte, dass der Prozess langwierig sei. Das erste Versprechen, in drei Monaten den Bereich Zoll umzukrempeln, sei inzwischen durch ebenden Premierminister auf ein Jahr verlängert worden. Auch ein Beispiel für Populismus, meinte der Reporter. Womit er Recht hat.
Dass in dieser Amtszeit  die Tarife für Dienstleistungen im Wohnungswesen auf das Dreifache gestiegen sind, war vorher allerdings nicht versprochen worden… 
Eine andere Geschichte zeigt mir, dass die Bürokratie im Lande herzlos ist. Im Fernsehen wurde eine junge Mutter von fünf Kindern gezeigt, die auf ihrem rechten Bein durch die Wohnung hüpfte. Als sie sich über zwei ihrer Kinder warf, weil in unmittelbarer Nähe eine Granate einschlug, konnte sie deren Leben retten, Allerdings musste ihr linkes Bein amputiert werden. ihr wurde inzwischen schon der Invalidenstatus zuerkannt. Allerdings bekommt sie – aus Gründen, die ich sprachlich nicht erfasst habe – seit Monaten weder ihre Invalidenrente noch das Kindergeld. Ihr Mann ist arbeitslos – seit sie aus der „Grauzone“ (dem Kampfgebiet im Donbass) in das ruhigere Hinterland gekommen sind. Weil ihnen das Geld ausgeht, müssen sie in immer schlechtere Wohnungen ziehen. Die ihr verordnete Prothese zeigte sie am Bein, bemerkte aber, dass sie nur mit Schmerzen zu nutzen ist. 
Dass die Bürger politisch aktiver sind, ist nicht immer deutlich zu sehen. Bei den Nachwahlen zur Rada waren nur etwa nur 16 % der Berechtigten an den Urnen. Allerdings sperrten heute die Einwohner der Kiew nahen Kleinstadt Butscha zeitweilig die Straße Kiew-Warschau, weil sie mit der Haussuchung durch das „Büro gegen Korruption“ bei ihrem Bürgermeister nicht einverstanden waren. Das ist aber doch etwas anderes als mein Demokratieverständnis. 
Weil ich auch heute wieder mein Verständnis für die ukrainische Sprache bemängelt habe, hier noch zwei Beispiele. Als ich kurz nach Erstbesuch der Ukraine in eine Einrichtung ging, über welcher „perukarnja“ stand, habe ich die Bezeichnung mit dem russischen „pekarnja“ verwechselt, der Bäckerei. Die Frage nach Brötchen innen hat mir Gelächter eingebracht und die Erklärung. 
Ernsthafter wurde es, als ich das Auftreten meines Stiefsohns mit dem Gehabe eines Hahn verglich – eine im Deutschen unschuldige Bemerkung. Meine Natascha musste mir erklären, dass in diesem Kulturkreis der Hahn (petuch) ein Häftling auf niedrigstem sozialem Niveau ist, welcher unter anderem in der Zelle auch sexuell missbraucht wird. Wir haben das Missverständnis beseitigt. 
Zum Schluss: allen Interessierten habe ich einen Link eingefügt. Die wenigsten unter uns haben eine so gute Zusammenfassung der ukrainischen Geschichte schon gelesen. Das Gemisch aus bewaffneten Aktionen und versteckten Aktivitäten lässt heutige Ereignisse besser verstehen. Auch eine Fernsehsendung, welche über eine illegale Universität in Lvov während der polnische Herrschaft in der Westukraine zwischen 1922 und 1925 berichtete.  
Bleiben Sie recht gesund!
Ihr
Siegfried Newiger





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