Dieser Post beendet meine kurze Serie zur Ukraine im
Alltag.
Als mich die um meine Beine besorgte Frau (http://mein-ostblock.blogspot.com/2016/07/gewohnliche-ukraine.html
) heute fragte, wieso ich denn hier im Lande bliebe, sagte ich ihr meine
Wahrheit. Für mich ist es in der Ukraine noch psychologisch wärmer als in
Deutschland – mit abnehmender Tendenz.
Das nicht, weil betont nationalistische
Tendenzen stark zunehmen, sondern weil die Aufpfropfung der westeuropäischen
und der sie dominierenden amerikanischen Lebensweise eine der slawischen Mentalität fremde Komponente
in das hiesige Leben bringt. Dazu die seit Jahren zu beobachtende Unterordnung
der staatlichen Stellen unter einen recht eigenartigen Demokratie-Begriff.
Heute
hat Premier Groismann das Fazit der ersten hundert Tage seiner Amtsübernahme
mit einigen positiven Zahlen gezogen. Vorher hatte ein Invaliden-Rentner, Teilnehmer
an den Kämpfen in der Donbass-Region, im Fernsehen zur Medikamentenversorgung
gesprochen. Vor allem, dass die verfügbaren nicht wie versprochen billiger
geworden sind, sondern ein Drittel seiner Rente verschlingen. Der ehemalige
stellvertretende Wirtschaftsminister kommentierte, dass der Prozess langwierig
sei. Das erste Versprechen, in drei Monaten den Bereich Zoll umzukrempeln, sei
inzwischen durch ebenden Premierminister auf ein Jahr verlängert worden. Auch ein
Beispiel für Populismus, meinte der Reporter. Womit er Recht hat.
Dass in
dieser Amtszeit die Tarife für Dienstleistungen
im Wohnungswesen auf das Dreifache gestiegen sind, war vorher allerdings nicht
versprochen worden…
Eine andere Geschichte zeigt mir, dass die Bürokratie im
Lande herzlos ist. Im Fernsehen wurde eine junge Mutter von fünf Kindern
gezeigt, die auf ihrem rechten Bein durch die Wohnung hüpfte. Als sie sich über
zwei ihrer Kinder warf, weil in unmittelbarer Nähe eine Granate einschlug, konnte
sie deren Leben retten, Allerdings musste ihr linkes Bein amputiert werden. ihr
wurde inzwischen schon der Invalidenstatus zuerkannt. Allerdings bekommt sie –
aus Gründen, die ich sprachlich nicht erfasst habe – seit Monaten weder ihre
Invalidenrente noch das Kindergeld. Ihr Mann ist arbeitslos – seit sie aus der „Grauzone“
(dem Kampfgebiet im Donbass) in das ruhigere Hinterland gekommen sind. Weil ihnen
das Geld ausgeht, müssen sie in immer schlechtere Wohnungen ziehen. Die ihr
verordnete Prothese zeigte sie am Bein, bemerkte aber, dass sie nur mit
Schmerzen zu nutzen ist.
Dass die Bürger politisch aktiver sind, ist nicht immer
deutlich zu sehen. Bei den Nachwahlen zur Rada waren nur etwa nur 16 % der
Berechtigten an den Urnen. Allerdings sperrten heute die Einwohner der Kiew nahen
Kleinstadt Butscha zeitweilig die Straße Kiew-Warschau, weil sie mit der
Haussuchung durch das „Büro gegen Korruption“ bei ihrem Bürgermeister nicht
einverstanden waren. Das ist aber doch etwas anderes als mein
Demokratieverständnis.
Weil ich auch heute wieder mein Verständnis für die
ukrainische Sprache bemängelt habe, hier noch zwei Beispiele. Als ich kurz nach
Erstbesuch der Ukraine in eine Einrichtung ging, über welcher „perukarnja“
stand, habe ich die Bezeichnung mit dem russischen „pekarnja“ verwechselt, der
Bäckerei. Die Frage nach Brötchen innen hat mir Gelächter eingebracht und die
Erklärung.
Ernsthafter wurde es, als ich das Auftreten meines Stiefsohns mit
dem Gehabe eines Hahn verglich – eine im Deutschen unschuldige Bemerkung. Meine
Natascha musste mir erklären, dass in diesem Kulturkreis der Hahn (petuch) ein
Häftling auf niedrigstem sozialem Niveau ist, welcher unter anderem in der
Zelle auch sexuell missbraucht wird. Wir haben das Missverständnis beseitigt.
Zum
Schluss: allen Interessierten habe ich einen Link eingefügt. Die wenigsten unter
uns haben eine so gute Zusammenfassung der ukrainischen Geschichte schon
gelesen. Das Gemisch aus bewaffneten Aktionen und versteckten Aktivitäten lässt
heutige Ereignisse besser verstehen. Auch eine Fernsehsendung, welche über eine
illegale Universität in Lvov während der polnische Herrschaft in der
Westukraine zwischen 1922 und 1925 berichtete.
Bleiben Sie recht gesund!
Ihr
Siegfried Newiger
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