Montag, 18. Juli 2016

Gewöhnliche Ukraine



Der ukrainische Historiker Sergeij Burlaka hat diesen Post angeregt. Weil er im örtlichen Fernsehen eine Sendung zur deutschen Besetzung dieser Stadt moderierte. 
Ohne Schuldkomplexe aufzuwärmen habe ich erneut erfasst, dass die etwa zweieinhalb Jahre deutscher militärischer Besetzung der Stadt durch das „Massaker von Belaja Zerkow“ im August 1941 (800-900 Todesopfer, Zivilisten) und die Ermordung von 90 Kindern besonders markiert wurden. 
Die anfängliche Erwartung, dass die Besatzer sich von den Schergen des stalinschen NKWD positiv unterscheiden würden, war in 1943 völlig entschwunden. Deshalb entstanden zu dem Zeitpunkt vier Partisaneneinheiten. Vor allem auch, weil mehr als 3000 junge Menschen zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich verbracht wurden. 
Aus genannten Gründen werde ich als Deutscher mich immer sehr behutsam zu Vorgängen hier in der Stadt und im Staat äußern.

Für mich beginnt die Ukraine jeden Morgen neu – der Morgenspaziergang mit Hund. 
Vor einigen Wochen kamen zwei junge Männer auf mich zu. „Väterchen, wofür kämpfen wir eigentlich?“ Mein Zögern mit der Antwort sah einer als den Versuch an, dem „Heimatkrieger“ nicht zu antworten. Er zog ein Hosenbein hoch – ich sah eine Narbe auf einer eben abgeheilten mittleren Wunde und daneben die verschorften kleinen Splitternarben. „Bin eben aus dem Spital gekommen – gehe wieder an die Front. Da will ich wissen, wofür wir mit den Jungens kämpfen.“   
Danach habe ich alle Feigheit zusammengefasst und mich mit meiner Inkompetenz als deutscher Staatsbürger aus der Situation zurückgezogen. 
Eins habe ich erneut erkannt: mein Outfit ist ein tarnendes. Ich werde als einer von ihnen wahrgenommen. 

Einige Tage später: lief mir mit trippelnden kleinen Schritten  eine bejahrte, aber ansehnliche Frau entgegen. Vor mir fiel sie in Schritt und wünschte einen Guten Morgen. Ich dankte und wollte weiter gehen, als sie sagte: „Mein Herr, ich lade sie ein, mir hinterher zu laufen.“ Da war ich verdutzt. Antwortete: „Für uns beide sollte die Zeit vorbei sein, einander hinterher zu laufen.“ Sie sagte etwas wehmütig: „Na ja, ich bin eben doch 81 Jahre alt.“ „Ich stehe vor dem 80-sten.“ „Was, sie sind jünger?“ Nach fünf Minuten wusste ich, dass sie eine Operation am offenen Herzen hinter sich und eine Tochter in Kanada hat. Unter Hinweis auf meinen ungeduldigen Hund ging ich meines Weges – sie begann wieder zu laufen. 

Nach etwa zehn Tagen lief ein Mann von etwa 45 Jahren rasch über eine Kreuzung auf mich zu, entbot seinen Morgengruß. „Sagen sie bitte, sind sie wirklich ein Bundesbürger und schon lange hier in Bila Tserkwa? Ich heiße Vitalij.“ Nach meiner Antwort wollte er wissen, weshalb wir nicht nach Deutschland übersiedeln. Als ich ihm erklärte, dass meine Frau das nicht möchte und ich es in der Ukraine für psychologisch wärmer empfinde, sagte er: „Erstaunlich. Sie sind ein Prachtkerl. Meine Tochter lebt seit acht Jahren 12 km von Köln entfernt.“ Er entschuldigte sich – ein Freund mit Auto war herangekommen. Wünschte uns das Allerbeste. 

Als letztes Beispiel: auf dem Rückweg nach knapp drei Kilometern grüßte mich eine Frau, die neben einigen anderen Blumen aus eigenem Garten anbot. Höflich antwortete ich – wurde aber von ihrer Frage geschockt: „Wie geht es ihren Beinen?“ Wahrscheinlich sah ich nicht besonders intelligent aus. Sie, eine bis zu diesem Morgen völlig Unbekannte, setzte fort: „Die Narben ihrer Venenoperationen an den Beinen sind zu sehen. Das habe ich auch. Wie geht es ihnen damit?“ Da musste ich antworten. Dass ich der Hitze wegen seit einigen Tagen die Elastikstrumpfhosen nicht angezogen habe. Sonst aber keine Beschwerden verspüre. Sie zog ein wenig ihre Kittelschürze hoch – ich sah die aus Binden bestehenden recht unförmigen Wickel. Danach meinte sie: „Wenn sie gute Elastikstrümpfe haben, sollten sie die tragen. Ohne diese provozieren sie doch ihren vorzeitigen Tod.“ Ich versprach es ihr und stellte mich am folgenden Morgen darin vor. Sie lächelte. Seitdem grüßen wir einander. 

Auf dem Basar spreche ich bei jedem Besuch mit einigen Verkäuferinnen und Verkäufern – über alltägliche Dinge und über das Abschneiden der beiden Mannschaften bei den Fußball-Europameisterschaften. Man wundert sich, dass mich das wenig juckt. Was hier deutlich werden sollte: ich lebe aktiv in diesem Land. 

Übergreifende Einschätzungen hat mein Freund Dirk auf Facebook gepostet. Lesenswert.

In der Gruppe „Deutsche in der Ukraine“ hat Andreas Brandes auf Facebook ebenfalls etwas Sinnvolles gepostet – mein Kommentar: Guten Tag Andreas, eine rechte Fleißarbeit mit positiver Ausstrahlung. Zwei Dinge bremsen mich laut zu jubeln. Die Arbeitsplätze sind leider nur Tropfen auf den heißen Stein und die Staatseinnahmen werden wie bisher für die bedürftigen Ukrainer kaum merkenswerte Verbesserung ihrer konkreten Situation bringen. 

Bleiben Sie recht gesund! 

Ihr 

Siegfried Newiger







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