Sonntag, 8. Dezember 2013

Was war vor dem "Maidan"?

           Es gibt immer wieder Einschnitte – in jedem Leben. Einzeln, in der Familie, bei Verwandten und Freunden. Auch in Staaten oder bei Völkern. 
             Hier in der Ukraine erlebe ich zum zweiten Mal einen solchen Einschnitt. Den Euro-Maidan. Davor die Orangen-Revolution. 
             Als Erläuterung: ein Maidan ist in der Landessprache ein Platz. Hier ist der „Alexanderplatz“ von Kiew gemeint. 
            Damals schon, zur Orangen-Revolution, hatte ich eine, genauer meine eigene, abweichende Meinung. Der ehemalige Präsidentschaftskandidat Justschenko versprach doch dem ukrainischen Wahlvolk 5 Millionen neue, gut bezahlte Arbeitsplätze. Bei etwa 42 Millionen Einwohnern! Neue Arbeit für jeden achten Ukrainer, Greise und Babys eingerechnet! 
          Ich erinnerte mich daran, wie der deutsche Exkanzler Schröder vor seiner Wahl 2,5 Millionen neue Arbeitsplätze versprach – um die Arbeitslosigkeit in Deutschland stark zu verringern. Und wie er bei aller ökonomischen Macht der Bundesrepublik an dem Versprechen jämmerlich scheiterte. 
           Also suchte ich im Internet nach Analysen zum Thema „neue Arbeitsplätze“ und wurde auch fündig. Der neue Arbeitsplatz einer Verkäuferin wurde mit etwa 60.000 Euro ausgewiesen, für einen Reinstraum in Mikrobiologie oder Mikroelektronik wurden etwa 300.000 Euro veranschlagt. Der Mittelwert für einen „statistisch neuen Arbeitsplatz“ in Deutschland wurde mit 100.000 Euro angenommen. 
         Ein Überschlag mit etwa 40.000 Euro im Mittel je neuen Arbeitsplatz in der Ukraine – also bei ortsüblichen Kostenanschlägen von etwa einem Drittel der deutschen – ergab für das „Versprechen“ Justschenko`s einen Finanzbedarf von rund 200 Milliarden Euro. Woher sollte diese Summe kommen?
       Die meisten meiner ukrainischen Gesprächspartner waren der Meinung, dass ich „Ausländer“ keine Ahnung von Land und Leuten hätte – obwohl ich damals schon 12 Jahre im Lande lebte. Außerdem hatte ich durch meine Arbeit einige tiefe Einblicke in wirtschaftliche Abläufe bekommen. 
           Bei meiner Meinung blieb ich – aber ich beharrte nicht darauf, meine Gegenüber zu überreden. Einzelne waren nachdenklich geworden. Nach Ende der Ära Justschenko waren die meisten so ehrlich, ihre Fehleinschätzung zuzugeben. 

    Heute ist die Situation eine ganz andere. Meine Auffassung: die leitenden Politiker haben versäumt, die Bevölkerung rechtzeitig zu informieren. Einverstanden, die Verhandlungen mit West (EU) und Nord (Russland) sind vertraulich. 
        Aber die Informationen zur allgemeinen Situation hätten sich bei mehr politischer Voraussicht doch allgemein und verständlich formulieren lassen. Das hätte der anderen Seite Denkanstöße vermittelt – und den eigenen Leuten nicht das Gefühl, übertölpelt geworden zu sein. Mit der unerwarteten Entscheidung, auf dem Summit in Vilnius das Dokument zur Assoziation mit der EU nicht zu unterschreiben. 
   In zwei regelrecht "erzwungenen" Fernsehauftritten haben Präsident und Premierminister der Ukraine kurz vor der politischen Großveranstaltung in Vilnius doch sehr klare Argumente vorgebracht. Nur: wer aus dem Volk, das sich etwa zur Hälfte um seine Hoffnungen und Wünsche betrogen sah, wollte diese Begründungen hören? Man reagierte in diesen Gruppen wie das „vorbildliche“ Parlament, die Rada – politische Gegner niederschreien, statt deren Argumente anzuhören und zu entkräften. 

           Soviel zur Ausgangssituation - wie ich sie sehe. 

Bleiben Sie recht gesund! 

Ihr 

Siegfried Newiger





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