Es gibt immer wieder Einschnitte – in jedem Leben. Einzeln, in der
Familie, bei Verwandten und Freunden. Auch in Staaten oder bei Völkern.
Hier in
der Ukraine erlebe ich zum zweiten Mal einen solchen Einschnitt. Den
Euro-Maidan. Davor die Orangen-Revolution.
Als Erläuterung: ein Maidan ist in
der Landessprache ein Platz. Hier ist der „Alexanderplatz“ von Kiew gemeint.
Damals
schon, zur Orangen-Revolution, hatte ich eine, genauer meine eigene, abweichende Meinung. Der ehemalige Präsidentschaftskandidat Justschenko versprach doch dem ukrainischen Wahlvolk 5
Millionen neue, gut bezahlte Arbeitsplätze. Bei etwa 42 Millionen Einwohnern! Neue Arbeit für
jeden achten Ukrainer, Greise und Babys eingerechnet!
Ich erinnerte mich daran, wie der deutsche Exkanzler Schröder vor seiner Wahl 2,5 Millionen neue Arbeitsplätze versprach – um die
Arbeitslosigkeit in Deutschland stark zu verringern. Und wie er bei aller ökonomischen Macht der Bundesrepublik an dem Versprechen jämmerlich scheiterte.
Also suchte ich im Internet nach Analysen zum Thema „neue Arbeitsplätze“ und wurde auch fündig. Der neue Arbeitsplatz einer
Verkäuferin wurde mit etwa 60.000 Euro ausgewiesen, für einen Reinstraum in Mikrobiologie
oder Mikroelektronik wurden etwa 300.000 Euro veranschlagt. Der Mittelwert für
einen „statistisch neuen Arbeitsplatz“ in Deutschland wurde mit 100.000 Euro
angenommen.
Ein Überschlag mit etwa 40.000 Euro im Mittel je neuen Arbeitsplatz
in der Ukraine – also bei ortsüblichen Kostenanschlägen von etwa einem Drittel
der deutschen – ergab für das „Versprechen“ Justschenko`s einen Finanzbedarf
von rund 200 Milliarden Euro. Woher sollte diese Summe kommen?
Die meisten meiner ukrainischen Gesprächspartner
waren der Meinung, dass ich „Ausländer“ keine Ahnung von Land und Leuten hätte
– obwohl ich damals schon 12 Jahre im Lande lebte. Außerdem hatte ich durch
meine Arbeit einige tiefe Einblicke in wirtschaftliche Abläufe bekommen.
Bei
meiner Meinung blieb ich – aber ich beharrte nicht darauf, meine Gegenüber zu
überreden. Einzelne waren nachdenklich geworden. Nach Ende der Ära Justschenko
waren die meisten so ehrlich, ihre Fehleinschätzung zuzugeben.
Heute ist die
Situation eine ganz andere. Meine Auffassung: die leitenden Politiker haben
versäumt, die Bevölkerung rechtzeitig zu informieren. Einverstanden, die
Verhandlungen mit West (EU) und Nord (Russland) sind vertraulich.
Aber die
Informationen zur allgemeinen Situation hätten sich bei mehr politischer
Voraussicht doch allgemein und verständlich formulieren lassen. Das hätte der
anderen Seite Denkanstöße vermittelt – und den eigenen Leuten nicht das Gefühl,
übertölpelt geworden zu sein. Mit der unerwarteten Entscheidung, auf dem Summit
in Vilnius das Dokument zur Assoziation mit der EU nicht zu unterschreiben.
In zwei regelrecht "erzwungenen" Fernsehauftritten haben Präsident und Premierminister
der Ukraine kurz vor der politischen Großveranstaltung in Vilnius doch sehr klare Argumente
vorgebracht. Nur: wer aus dem Volk, das sich etwa zur Hälfte um seine Hoffnungen und
Wünsche betrogen sah, wollte diese Begründungen hören? Man reagierte in diesen
Gruppen wie das „vorbildliche“ Parlament, die Rada – politische Gegner
niederschreien, statt deren Argumente anzuhören und zu entkräften.
Soviel zur Ausgangssituation - wie ich sie sehe.
Bleiben Sie
recht gesund!
Ihr
Siegfried Newiger
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen