Mittwoch, 12. Oktober 2016

Zivilist



Weil ich auf Vadim Rabinovich gewartet habe, der bisher gewöhnlich am Sonntag seine eigenwillige politische Wochenauswertung im Fernsehen präsentierte, war ich am Montag etwas ratlos. Jedoch ist der Altweibersommer für vernünftige ältere Leute eine günstige Zeit für ihren Urlaub. Auch andere Gründe sind denkbar. Also meine eigene sehr begrenzte Analyse der Situation anbieten.
Da war ein Interview mit dem ukrainischen Verteidigungsminister Armeegeneral Poltorak. Die  intelligente und hübsche Reporterin war sehr bissig. Er konnte ihr beweisen, dass die kämpfende Truppe an der „Ostfront“  inzwischen schon nicht nur von den freiwilligen Volontären versorgt und ausgerüstet wird, sondern sogar nicht nur Steinschleudern vom Verteidigungsministerium bekommt.
Auf die Frage der jungen Frau, ob die Ukraine wie Israel und andere Staaten von den USA nicht als „besonderer militärischer Partner“ anerkannt und unterstützt werden könne, antwortete Pan Poltorak, dass kein amerikanischer Boy in Israel kämpfe – also die personelle Sicherstellung der Verteidigung dort und in der Ukraine nur mit örtlichem Personal denkbar sei. Sie wies darauf hin, dass im Kontext ihrer Frage das nicht gemeint war, sondern die besonderen Bedingungen der Lieferung „letaler Bewaffnung“. Eine in meinen Augen verniedlichende Bezeichnung. Minister Poltorak sagte, dass Verhandlungen darüber laufen. Die ukrainische Seite erwarte nach Abschluss der erwähnten Besprechungen die Lieferung von Flugabwehr- und Panzerabwehr-Bewaffnung.
Dann kam die Rede auf die neue Militärdoktrin der Ukraine. Dass sie in fünf speziellen Dokumenten schon festgelegt sei, darüber aber keine öffentliche Diskussion erfolge. Die Einzelheiten sind mir in der ukrainisch geführten Unterhaltung nicht so klar geworden, dass ich sie hier kommentieren kann.
Die Reporterin fragte, wann in der Ukraine wie in anderen Staaten denn der Verteidigungsminister eine Zivilperson würde. Auch das wäre in den Dokumenten geplant, antwortete der Armeegeneral. Die Frage ist für mich nebensächlich. Man kann einen Berufsmilitär in Ehren entlassen, danach als Minister (wieder) einsetzen…
Die Stimmung im Land ist kritisch. Eine Journalistin drückte das im Fernsehen etwa so aus: „Dem Wahlvolk wurde die Visafreiheit mit Westeuropa versprochen. Wir wollen abwarten, was das Europaparlament in den nächsten Tagen dazu sagen wird. Bisher hat man uns nur in die Seele gespuckt.“ Wenn sogar Vertreter der Massenmedien so auftreten, ist das erstaunlich. Denn von westeuropäischer Seite sind nie terminliche Zusagen gekommen. Immer war von noch erforderlichen Verhandlungen und Reformen die Rede. Auf übertriebene Hoffnungen haben vorwiegend hiesige Politiker gesetzt. Ich meine, dass auch Präsident Poroshenko bei mancher Äußerung nicht deutlich genug gemacht hat, dass er das wünscht, ohne sicher zu sein. Die junge Frau, welche von der Volksseele sprach, setzte nämlich auch sinngemäß so fort: „Wenn es keine befriedigende Entscheidung gibt, wird der Präsident abwiegeln und dafür Gründe an den Haaren herbeiziehen.“
Die Masse der einfachen Ukrainer wird von den Visaerleichterungen nichts haben – sie sind die bekannte Mohrrübe, welche vor dem Maul des Zugtieres hängt und bei jedem Schritt ebenso weit wie der Wagen vorrückt. Für die meisten Bewohner des Landes ist die bevorstehende Heizperiode wesentlich wichtiger. Die Bereitschaftsmeldungen über den Brennstoffvorrat und die Einsatzfähigkeit der Rohrleitungssysteme klingen im Fernsehen für den daran gewöhnten Bürger optimistisch, selbst wenn er weiß, dass der nächste große Warmwasserausbruch in einem langsam abkühlenden Wohngebiet irgendwo bald gemeldet wird. Der Verfall von Versorgungs- und Entsorgungssystemen ist weltweit vorprogrammiert. Überall. Von der Regierungsform unabhängig. Verschleiß, Alterung.

Bleiben Sie recht gesund! 

Ihr 

Siegfried Newiger


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