Sonntag, 25. September 2016

Odessa-Nachlese



Erneut war ich in Odessa, bei Freunden. Was mir gleich am Ankunftsabend auffiel: aus einem Kellerfenster war ein Gartenschlauch zu sehen, der ständig einen kräftigen Wasserstrahl auf die Erde strömen ließ. Mir wurde von Dirk erklärt, dass nach Bau eines für 21 Etagen genehmigtes und mit 28 Etagen vollendetem Haus offensichtlich in dem nahegelegenen anderen ein Riss in den Grundmauern das Einsickern von Grundwasser provoziert habe. Das würde nun ständig abgepumpt. 
Die Genehmigung für überzählige sieben Etagen sei inzwischen nachträglich erteilt worden. Niemand wisse, für welche Summe – aber alle reden von Bestechung. 
Als einen Tag später die Wasserversorgung ausfiel, kam auch der örtliche Obermeister der Wasserversorgungstechniker vorbei, die hier noch Sanitärtechniker heißen und alles bearbeiten, was mit Versorgung und Entsorgung zusammenhängt. Man hatte ihn alarmiert, weil der verantwortliche Techniker wegen Urlaub nicht greifbar war. Er zeigte uns auf unsere Bitte, wie hoch durch einen Schaden an der Wasserzuleitung des Hauses der Wasserspiegel im Keller angestiegen war. Regelrecht erschreckend. Versprach, dass nach Abpumpen auf eine zumutbare Höhe der Schaden repariert würde. Nach etwa zwei Stunden hatte er sein Versprechen eingelöst.
Tatyana entlockte ihm seine private Telefonnummer. Er kommentierte: „Aber wenn sie mich nachts anrufen, erfahren sie über sich sehr vieles, was sie bisher nicht wussten.“ Denn nach 21 Uhr bis sechs Uhr früh ist der Havariedienst der Stadt verantwortlich für besondere Vorgänge.
Als Dirk und ich den Taxidienst zu einem Amt nutzten, kamen wir mit dem Fahrer ins Gespräch. Bei einem kurzem Thema sagte Dirk,  dass gute Bekannte aus der Stadt Nikolajew ihm gesagt hätten, die neue Polizei sei schon fast so bestechlich wie die ehemalige Miliz. Der Mann lachte. „Man hat sie belogen. Wenn in Odessa früher jemand betrunken am Steuer saß und gefasst wurde, fuhr man ihn für 100 US-Dollar nach Hause. Heute kostet das 400 $.“ Wir waren erstaunt. Er fuhr fort: „Zudem haben die unerfahrenen Neuen hier in Odessa schon die Hälfte ihrer neuen Dienstfahrzeuge so zuschanden gefahren, dass sie zu Fuß Streifendienst machen müssen.“ Weil keine Neuanschaffungen geplant seien.
Aus einigen Fahrten mit dem Autobus in die Stadt kam ich zur Auffassung, dass ich in Odessa nicht Kraftfahrer sein möchte. Vor allem nicht beruflich. Kiew ist als Hauptstadt mit gewöhnlich breiteren Straßen schon tagsüber der reine Horror. Odessa übertrifft sie um einiges.
Von der netten Zahnärztin, die auf der Rückfahrt nach Bila Tserkva neben mir saß, erfuhr ich einiges zur Einstellung Offizieller gegenüber den Bürgern. Es war eine Bestätigung der schon bekannten Haltung bürokratisch geprägter Amtsinhaber. 
Sie und andere Besitzer von Eigenheimen hatten zusammengelegt, Bitumenmischung und entsprechende Technik sowie Arbeitskräfte bestellt und etwa 300 m Straße zu ihren Häusern befestigen lassen. Dahinter war etwa noch eine ebensolche Strecke gelegen, an welcher sich die Häuschen von weniger bemittelten Bürgern befinden. Der Bürgermeister der Gemeinde hatte sich die neue Straße angesehen und die Initiative gelobt. Sie habe ihn angesprochen. Ob er die Finanzierung der Reststrecke sichern könne. Sie selber würde die „Bauaufsicht“ übernehmen – freiwillig und kostenlos. Er sagte zu. Bis heute tat und tut sich nichts. 
In ähnlichem Zusammenhang habe ich unsere Freundin Tatyana ermuntert, welche Bürokraten gegenüber extrem „schüchtern“ ist. Eine noch aus der Sowjetvergangenheit stammende Haltung. Habe ihr gesagt, dass dies ihr „persönlicher Maidan“ ist. Denn nur, wenn alle Menschen vor Ort den Bürokraten aufrecht und selbstbewusst gegenübertreten, als Bürger und nicht als Untertanen, wird sich etwas ändern. Sie versprach, ihr Verhalten zu überdenken und langsam umzustellen. 
Während aller Tage in Odessa habe ich nicht eine Fernsehsendung gesehen. Kein Verlust. Zuhause war die Stieftochter mit dem Enkel da und die Oma sehr beschäftigt. Deshalb kam plötzlich auf dem von ihr eingestellten Sender eine Reportage zu ukrainischen unbemannten Luftaufklärung. Sehr interessant. 
Erneut eine Bestätigung, was Untätigkeit von Amtsinhabern beziehungsweise deren unzureichenden Voraussetzungen sich fast so auswirken, als wäre im ukrainischen Verteidigungsministerium die Fünfte Kolonne Russlands direkt angestellt. Nicht nur, dass von dort die Beschaffung von Drohnen und anderen unbemannten fliegenden Mitteln zur Frontaufklärung gegen vorhandene ukrainische Angebote mit teilweise besseren Leistungen und zu wesentlich geringeren Preisen durchgesetzt wurde. Sondern die Ausbildung der erforderlichen „Steuerleute“ wurde sträflich vernachlässigt, so dass von den immerhin schon vorhandenen 72 Einheiten etwa ein Drittel nicht eingesetzt werden kann. 
Beschämend. Nein – unverantwortlich. Genauer – die Kämpfer an der Ostfront beachtend: unverzeihlich! 

Bleiben Sie recht gesund! 

Ihr 

Siegfried Newiger





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