Sonntag, 21. August 2016

Tränen



Es sagte einst Lord Byron: „Eine Träne zu trocknen ist ehrenvoller als Ströme von Blut zu vergießen.“ Was hat dieser wahre Satz mit der heutigen Ukraine zu tun?
Der Präsident dieses Landes, Petro Poroshenko, hat anlässlich einer Arbeitsreise in die Westukraine dort – vom Fernsehen ausgestrahlt – sinngemäß Folgendes gesagt: „Wir können aktuell eine großflächige Annexion durch Russland nicht ausschließen. In einem solchen Fall werden wir den Kriegszustand ausrufen und die volle Mobilmachung verkünden müssen.“ Damit werden meine Bemerkungen zur militärischen Lage in meinem Post „Krieg?“ vom 16.08.2016 natürlich sachlich entkräftet – wenn das eintritt, wovon der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte spricht. 
Für die Bürger beider Staaten hoffe ich verstärkt auf das Gegenteil. Denn ich habe ausreichend Fantasie, mir die Ströme von Blut auf beiden Seiten und die Meere an Tränen auszumalen. Vor meinen inneren Augen sehe ich die Vorgänge von April-Mai 1945 wieder ablaufen. 
Sie haben mit dazu geführt, dass ich mit meiner Berufswahl als Offizier der Nationalen Volksarmee der DDR habe den Frieden schützen wollen. Es hat sehr lange gedauert, dass bei mir innerlich der Glaube an den ehrenhaften Friedensdienst eines jeden Militärs erloschen ist. Denn die Aufgabe jedes Soldaten – und Partisanen, Freischärler oder wie auch immer bezeichnet – ist es, „…materielle Mittel und lebende Kraft des Gegners außer Gefecht zu setzen…“. Bis zur physischen Vernichtung. Der schon vor deutschen Gerichten behandelte Satz von Kurt Tucholsky „Soldaten sind Mörder!“ ist im Lichte dieser obigen Aufgabenstellung für Angreifer wie auch für Verteidiger beliebiger Armeen sachlich relevant. 
Wie sagte der französische Dichter Voltaire so passend: „Zwanzig Jahre braucht der Mensch, um es aus dem Wesen, das er im Mutterleib war, zum rein animalischen Zustand der Jugend und zur beginnenden Entfaltung seines Verstandes zu bringen. Jahrhunderte bedurfte es, bis er seinen Körperbau nur annähernd kennenlernte. Die Ewigkeit müsste man haben, um etwas von seiner Seele zu wissen. Aber…, ein Augenblick genügt, um ihn zu töten.“ 
Der allergrößte Teil der DDR-Armeeangehörigen hat die ihm anerzogenen Fähigkeiten und Fertigkeiten glücklicher Weise nie einsetzen müssen. Darunter auch ich. 
Den ukrainischen Soldaten und Offizieren, welche sich auf die Militärparade am 24. August in Kiew vorbereiten, wird vielleicht das Schicksal nicht so gnädig sein. Nur wird Pflichterfüllung gewiss vor humanitären Vorstellungen gehen. Selbst, wenn die bei einzelnen vorhanden sind. 

Mir wurde von Ukrainern wegen der prekären ökonomischen Situation schon die Frage gestellt, ob ich die Parade für sinnvoll ansehe. Die Frage habe ich sie selbst beantworten lassen. Denn auch ohne Krieg gibt es im Lande ausreichend Leid. Die Ausgaben für die militärische Demonstration hätten für Unterstützung Bedürftiger besser angewendet werden können. 
Eine gute Bekannte hat in den letzten Jahren durch Krankheiten und Unfälle den Ehemann verloren, beide Söhne, die Tochter und den Lebenspartner. Ist mit 60 Jahren jetzt für den vierjährigen Enkel die einzige Stütze. Ihre winzige Rente und das klägliche Kindergeld reichen mit Mühe für Überleben. Wir haben vor kurzem finanziell ein wenig zu ihrem Lebensunterhalt beigesteuert. Als ich das meinem langjährigen Freund beiläufig berichtete, kam von ihm eine großzügige Spende. 
Seine Begründung: ihm hätten 1945 sowjetische Soldaten das Leben gerettet. Medikamente gegen seine toxische Angina besorgt und eine Tafel Schokolade geschenkt. Er wolle dem Vierjährigen helfen. Vor 70 Jahren der Beweis, dass trotz ihrer mörderischen Pflicht in Soldaten humanistische Vorstellungen lebendig sein können. Wir trocknen Tränen… 

Bleiben Sie recht gesund! 

Ihr 

Siegfried Newiger                




                       

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