Das Thema hatte ich
mir eigentlich für den „Tag der unabhängigen Ukraine“ aufsparen wollen. Nur ist
das mit den Ereignissen so eine eigenartige Sache. Sie provozieren auch
veränderte Überlegungen. Ganz unerwartet sah ich beim „Zappen“ am vorvorletzten
Sonntag eine Sendung des bekannten ukrainischen Multitalents Dmitro Gordon mit
dem ersten ukrainischen Präsidenten dieses Jahrhunderts als Gast. Mit Leonid
Makarowytsch Krawtschuk. Schon lange habe ich diesen Mann als abgeklärten, sehr
bewusst formulierenden und nie vorschnell antwortenden Politiker eingeschätzt.
Aus den an zwei Abenden
ausgestrahlten Teilen des Interviews haben mich drei Bestandteile besonders
interessiert: die Vorgänge um den 8. Dezember 1991 im belorussischen Urwald von Belowesch, genauer im dort
gelegenen Regierungshotel, die Einschätzung des gegenwärtigen ukrainischen
Präsidenten als Persönlichkeit und die Meinung Krawtschuks zum Kampf gegen die
Korruption im Lande.
Das Treffen der
bevollmächtigten Politiker in Belowesch war nicht dazu gedacht, die
Sowjetunion aufzulösen. Von zentraler Stelle war es als Arbeitstreffen für die
Ausarbeitung eines neuen Unionsvertrages vorgesehen. Er, Krawtschuk, habe
jedoch deutlich gemacht, dass das ukrainische Volk ihm mit dem zu eben dieser wichtigen Frage
durchgeführten Referendum vom 01. 12. 1991 und seiner Wahl zum Präsidenten der
Ukraine den eindeutigen Auftrag gegeben habe, eine unabhängige Ukraine
durchzusetzen.
Der erste Satz des später unterschriebenen Dokuments hieß dann
auch (sinngemäß): „Mit dem heutigen Tag hat die Sowjetunion als staatliches
Subjekt aufgehört zu existieren.“
Weil: die Sowjetunion war 1922 von eben den
drei Staaten Belorussland, Russland und Ukraine dokumentarisch gegründet
worden. Daher nahmen sich die drei Bevollmächtigten auch das Recht zu einer so
weitgehenden Entscheidung und Erklärung.
Jelzin warnte Krawtschuk, er solle
sofort Belorussland verlassen. Der folgte dem Rat und war erleichtert, als ihn
daheim in Kiew drei Uniformierte nach Ehrenbezeigung mit den Worten begrüßten: „Herr
Präsident, wir sind ihre persönliche Wache.“ Denn er hatte erfahren, dass man
ihn in Moskau auch zur Abkehr von obiger Erklärung hatte veranlassen wollen.
Befragt nach seiner Einschätzung von Präsident Poroshenko sagte er (kein Zitat,
außerdem unvollständig, aber sinngemäß das wesentliche): „Er ist unter allen ukrainischen
Präsidenten der gebildetste. Beherrscht Englisch – damit sind viele internationale
vier-Augen-Gespräche wirklich solche. Seine wirtschaftlichen und finanziellen
Kenntnisse sind überdurchschnittlich. Er ist zielstrebig. Ungünstig ist, wenn
politische Entscheidungen aller Art nicht selten etwas ökonomisch kopflastig
sind.“
Zur Korruption, zu
Bestechungsgeldern sagte er: „Wir dürfen die Wurzeln nicht vergessen. Denn unsere
Vorfahren waren sehr lange, bis zu Beginn des 20-sten Jahrhunderts, Leibeigene.“
Zitierte ein Gedicht von Puschkin, das ich verstand, großartig fand, aber nicht
behielt.
In der Mitte des 18. Jahrhunderts schrieb Michail. D. Tschulkow die
kleine Erzählung „Der kostbare Hecht“. (Quelle: Verlag Reclam, „Altrussische
Dichtung aus dem 11. – 18. Jahrhundert“, 1977). Habe das Büchlein gekauft,
gelesen, in die Ukraine mitgenommen. Es hat mir sehr geholfen, die slawische
Mentalität zu erfassen – jedoch nicht zu verstehen. In dieser Erzählung wird
deutlich, wie Freie und Unfreie schon in dieser relativ fernen Vergangenheit für
jede Dienstleistung der Bürokraten offen oder verdeckt Bestechungsgeld zahlten.
Obwohl ab einer bestimmten Zeit einst erlaubte – bei Geschäften –
Schmiergeldzahlungen streng verboten waren. Was ist weiter zu sagen? Wenn in
sowjetischen Dörfern die letzten Bürger 1968 erst Personalausweise bekamen, hat
sich mancher davor die „Reise in eine Stadt“ erkauft.
Zurück zu Leonid Krawtschuk.
Der formulierte: „Erst wenn alle, auch die höchsten Amtsinhaber ein
persönliches Beispiel geben, wird die Korruption bei uns aufhören.“ Ein hartes
Wort. Es greift niemanden direkt persönlich an, schließt aber die bereits
bekannt gewordenen Bestechungsfälle auf allen staatlichen Leitungsebenen ein.
Bleiben Sie recht gesund!
Ihr
Siegfried Newiger
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