Montag, 15. August 2016

Leonid Krawtschuk

Das Thema hatte ich mir eigentlich für den „Tag der unabhängigen Ukraine“ aufsparen wollen. Nur ist das mit den Ereignissen so eine eigenartige Sache. Sie provozieren auch veränderte Überlegungen. Ganz unerwartet sah ich beim „Zappen“ am vorvorletzten Sonntag eine Sendung des bekannten ukrainischen Multitalents Dmitro Gordon mit dem ersten ukrainischen Präsidenten dieses Jahrhunderts als Gast. Mit Leonid Makarowytsch Krawtschuk. Schon lange habe ich diesen Mann als abgeklärten, sehr bewusst formulierenden und nie vorschnell antwortenden Politiker  eingeschätzt. 
Aus den an zwei Abenden ausgestrahlten Teilen des Interviews haben mich drei Bestandteile besonders interessiert: die Vorgänge um den 8. Dezember 1991 im belorussischen  Urwald von Belowesch, genauer im dort gelegenen Regierungshotel, die Einschätzung des gegenwärtigen ukrainischen Präsidenten als Persönlichkeit und die Meinung Krawtschuks zum Kampf gegen die Korruption im Lande. 

Das Treffen der  bevollmächtigten Politiker in Belowesch war nicht dazu gedacht, die Sowjetunion aufzulösen. Von zentraler Stelle war es als Arbeitstreffen für die Ausarbeitung eines neuen Unionsvertrages vorgesehen. Er, Krawtschuk, habe jedoch deutlich gemacht, dass das ukrainische Volk ihm mit dem zu eben dieser wichtigen Frage durchgeführten Referendum vom 01. 12. 1991 und seiner Wahl zum Präsidenten der Ukraine den eindeutigen Auftrag gegeben habe, eine unabhängige Ukraine durchzusetzen. 
Der erste Satz des später unterschriebenen Dokuments hieß dann auch (sinngemäß): „Mit dem heutigen Tag hat die Sowjetunion als staatliches Subjekt aufgehört zu existieren.“ 
Weil: die Sowjetunion war 1922 von eben den drei Staaten Belorussland, Russland und Ukraine dokumentarisch gegründet worden. Daher nahmen sich die drei Bevollmächtigten auch das Recht zu einer so weitgehenden Entscheidung und Erklärung. 
Jelzin warnte Krawtschuk, er solle sofort Belorussland verlassen. Der folgte dem Rat und war erleichtert, als ihn daheim in Kiew drei Uniformierte nach Ehrenbezeigung mit den Worten begrüßten: „Herr Präsident, wir sind ihre persönliche Wache.“ Denn er hatte erfahren, dass man ihn in Moskau auch zur Abkehr von obiger Erklärung hatte veranlassen wollen. 
Befragt nach seiner Einschätzung von Präsident Poroshenko sagte er (kein Zitat, außerdem unvollständig, aber sinngemäß das wesentliche): „Er ist unter allen ukrainischen Präsidenten der gebildetste. Beherrscht Englisch – damit sind viele internationale vier-Augen-Gespräche wirklich solche. Seine wirtschaftlichen und finanziellen Kenntnisse sind überdurchschnittlich. Er ist zielstrebig. Ungünstig ist, wenn politische Entscheidungen aller Art nicht selten etwas ökonomisch kopflastig sind.“
Zur Korruption, zu Bestechungsgeldern sagte er: „Wir dürfen die Wurzeln nicht vergessen. Denn unsere Vorfahren waren sehr lange, bis zu Beginn des 20-sten Jahrhunderts, Leibeigene.“ Zitierte ein Gedicht von Puschkin, das ich verstand, großartig fand, aber nicht behielt. 
In der Mitte des 18. Jahrhunderts schrieb Michail. D. Tschulkow die kleine Erzählung „Der kostbare Hecht“. (Quelle: Verlag Reclam, „Altrussische Dichtung aus dem 11. – 18. Jahrhundert“, 1977). Habe das Büchlein gekauft, gelesen, in die Ukraine mitgenommen. Es hat mir sehr geholfen, die slawische Mentalität zu erfassen – jedoch nicht zu verstehen. In dieser Erzählung wird deutlich, wie Freie und Unfreie schon in dieser relativ fernen Vergangenheit für jede Dienstleistung der Bürokraten offen oder verdeckt Bestechungsgeld zahlten. Obwohl ab einer bestimmten Zeit einst erlaubte – bei Geschäften – Schmiergeldzahlungen streng verboten waren. Was ist weiter zu sagen? Wenn in sowjetischen Dörfern die letzten Bürger 1968 erst Personalausweise bekamen, hat sich mancher davor die „Reise in eine Stadt“ erkauft. 
Zurück zu Leonid Krawtschuk. Der formulierte: „Erst wenn alle, auch die höchsten Amtsinhaber ein persönliches Beispiel geben, wird die Korruption bei uns aufhören.“ Ein hartes Wort. Es greift niemanden direkt persönlich an, schließt aber die bereits bekannt gewordenen Bestechungsfälle auf allen staatlichen Leitungsebenen ein. 

Bleiben Sie recht gesund! 

Ihr 

Siegfried Newiger





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