Samstag, 30. Mai 2015

Zum Abi-Ball ...



Es ist der 31. Mai 2015, kurz nach sechs Uhr früh. In der ukrainischen Stadt Belaja Zerkov – auf Deutsch Weißkirchen. Auf der Straße fröhliches, aber sonst untypisches jugendliches Gelächter. 
Vor zwei Tagen hörte ich durch das offene Fenster die Kommandos auf dem etwa 200 Meter Luftlinie entfernten Schulhof und daran anschließend die melodische ukrainische Nationalhymne. Der letzte Schultag wurde eingeleitet. Mit Reden, Zeugnisübergabe und so fort … einschlielich Dankesworte an die mehr oder minder verehrten, geliebten oder ungeachteten Lehrer beiderlei Geschlechts. 
Wie er hier heißt: „Letzte Schulglocke.“ Der beste Abiturient trägt zum Schluss der Veranstaltung eine niedliche Erstklässlerin über den Schulhof vor der „Antrete-Ordnung“, welche ununterbrochen die symbolische Schulglocke schwingt. Anschließend zerstreuten sich alle, in ihrer festlichen Kleidung recht auffällig – die Absolventen mit bunten Schärpen über den Schultern. Weithin zu erkennen. 
Lehrerinnen vor allem, aber auch Lehrer trugen ihnen übereichte Blumensträuße, welche kurz zuvor noch auf den Tischen an der Markthalle feilgeboten wurden. Im nahen Supermarkt waren die Regale mit Schokoladenerzeugnissen bis auf Reste regelrecht leergefegt. Das fiel mir auf, obwohl ich andere Lebensmittel kaufen sollte. 
Gestern zum Abend waren die Trüppchen junger Leute und ihre Begleit-Generation zu sehen, die in einzelne Lokale mit größeren Sälen gingen. Der diesjährige örtliche Abi-Ball begann. 

Der unsrige liegt für mich schon 60 Jahre zurück. 
Zurück zur heutigen Morgenstunde. Der Hund strebte eifrig zur Gruppe junger Leute, welche an der Bushaltestelle fröhlich lärmten, ohne jedoch besonders alkoholisiert zu sein. Vielleicht hat Goethe das gemeint – „Jugend ist Trunkenheit ohne Wein.“ 
Ein hochgewachsener schlanker Bursche in dunklem modernen Anzug, darunter das weiße Hemd mit einfarbiger „Fliege“, am Ohr das unvermeidliche Handy, kam langsam von rechts auf die Gruppe zugeschlendert. Von dort rief ihm ein nettes Mädchen zu, dass er sich beeilen solle.
Er sah mir während seiner Bewegung zu, wie ich die Straße überquerte. Als wir uns trafen, fragte er mit freundlichem Lächeln: „Haben sie eine Beinbehinderung?“ Ich wünschte ihm einen „Guten Morgen“. Man hätte mich gelehrt, ein Gespräch mit einem Gruß zu beginnen. Er war nur kurz verlegen. Ich solle ihm verzeihen, alle wären guter Stimmung.
Dann erklärte ich, dass meine Kniebehinderung von einem Wegeunfall vor 45 Jahren stamme. Ein russischer Arzt in Moskau, seitdem mein Freund, hätte mir das Knie durch eine meisterhafte Operation beweglich erhalten. 
Seine folgende Frage verwunderte mich ein wenig. „Sind sie Deutscher?“ Er hatte das offensichtlich an meinem leichten Akzent erkannt. Nachdem ich bejaht hatte, fragte er noch eigenartiger: „Haben sie gegen uns gekämpft?“ 
Lächelnd gab ich zurück: „Wie alt schätzt du mich?“ „Auf 70 Jahre.“ Wie schmeichelhaft, wenn dazu acht weitere gezählt werden müssen … 
Doch ich fragte: „Wann ging der  2. Weltkrieg zu Ende – oder der Große Vaterländische Krieg, wie er hier noch heißt? “ „1945.“ „Also hätte ich schon als Säugling gegen die Ukraine kämpfen müssen – oder?“ 
Er lächelte verwirrt. Das hübsche Mädchen war dazu gekommen und hatte sich bei ihm eingehängt. Sie fragte, was er denn wissen wolle. Da begrüßte ich auch sie mit „Guten Morgen!“ und erfuhr, dass sie Ruslana genannt wird. Knapp wies ich ihn darauf hin, dass seine Gleichsetzung aller älteren Deutschen mit möglichen einstigen militärischen Gegnern wenig korrekt sei. Er akzeptierte mit Kopfnicken.  
Weil aus dem Verhalten der Gruppe zu merken war, dass sich hinter meine Rücken der Bus näherte, wünschte ich beiden Gesundheit und alles erdenklich Gute. Dass sie sich in 50 Jahren alle gesund und munter zum Jubiläum treffen mögen. Sie bedankten sich und stiegen ein. 

In der Ostukraine stehen die Zeichen nicht zum Besten. Wer wohl wird von den fröhlichen Jungen in meiner Nähe diese Zeit ohne Verwundungen oder überhaupt überleben? 
Wenn im offiziellen ukrainischen Fernsehen ein Mann aus einer Kontrollgruppe auftrat, welcher sowohl das Fehlen von ausgebauten Verteidigungs-Stellungen in den erwarteten Hauptangriffsrichtungen der Separatisten und ihrer russischen Helfershelfer als auch andere Mängel dokumentiert, ist das "Meinungsfreiheit". Auch, wenn er dazu beweist, dass erst nach der dritten Beschwerde im Verteidigungsministerium mit dem Ausbau solcher Anlagen begonnen wurde. Seine  sachlich nachvollziehbare Begründung: die pioniertechnischen Einheiten der ukrainischen Armee seien sträflich dezimiert worden, Unterlagen für den Bau moderner Befestigungen nicht mehr oder nur in Russisch vorhanden. Außerdem fehlen bei einzelnen Einheiten in der Frontlinie auch Panzerabwehrlenkraketen. Die seien für eine gezielte Bekämpfung erwarteter moderner Gefechtstechnik aber gegenwärtig unbedingt erforderlich. Die für diese Situation Verantwortlichen müssten zur Verantwortung gezogen werden. Wenn daneben auch eine Spenden-Aktion läuft, welche die Beschaffung von Nachtsichtgeräten für die kämpfende Truppe zum Ziel hat... 
Es gibt hier noch andere Tatsachen, welche mir die Erfüllung meiner guten Wünsche für die ukrainische Jugend fragwürdig erscheinen lassen. Aber ich wünsche ihnen dennoch das Allerbeste. Wie auch allen jenen, die wo auch immer in den nächsten Wochen einen für sie wesentlichen Lebensabschnitt beenden. 

Ungeachtet dessen, dass das Buch „DIE VERBLÖDETE REPUBLIK – Wie uns Medien, Wirtschaft und Politik für dumm verkaufen“ von Thomas Wieczorek (ISBN 978-3-426-78098-5) meine Meinung bestätigt: die Jugend von heute wird es in aller Welt viel schwerer haben als wir einst – obwohl wir noch echten Hunger und andere Probleme hautnah erfahren haben. Lesen Sie es bitte – Sie werden das nicht bereuen. 

Bleiben Sie recht gesund! 

Ihr 

Siegfried Newiger




Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen