Sonntag, 9. November 2014

Einigkeit und Recht und Freiheit...


Es werden immer weniger von denen, die wahrhaft Bilanz ziehen können. Weil sie sowohl Beginn als auch Ende eines geschichtlichen Abschnitts bewusst erlebt haben. Was dennoch viel wichtiger ist: sind sie dazu bereit, eine möglichst durch ganz persönliche Vorlieben unverfälschte Einschätzung zu geben? Da habe ich selbst an mir so meine Zweifel… 

Etwa eine Woche vor der berühmt-berüchtigten Erklärung zur „Reisefreiheit“ von Günter Schabowski aus dem Zentralkomitee der SED fuhr ich abends an einem Sonntag durch Berlin-Weißensee. Zu einer Zeit, als selbst die absoluten Hardliner der „Partei“ in der DDR von den Montagsdemonstrationen in Leipzig und anderswo wussten. Als die Öffnung der Westgrenzen in Ungarn geschehen war. Danach Züge voll „DDR-Übersiedlern“ aus den im „Warschauer Vertrag“ verbündeten Ländern in die Alt-Bundesländer fuhren.
In einem Hauseingang sah ich zwei Schüler unserer Berufsschule mit brennenden Kerzen in den Händen stehen. Zwei von jenen, die sich gewöhnlich nicht äußerten, wenn die Diskussion auf politische Vorgänge kam – beispielsweise im „Lager für vormilitärische Ausbildung“, in das Lehrer und Schüler der Betriebsberufsschule regelmäßig jedes Jahr einmal im Spätherbst fuhren. Zwei Tage später bekam ich von einem Kollegen den Aufruf des Neuen Forum´s – obwohl ich ehemals Offizier war und Mitglied der SED. Ein Vertrauensbeweis?

Zur Großdemonstration am 04. November 1989 war ich gegangen. Es ging mir wie vielen in der Kolonne um eine „bessere DDR“. Aber auch die Variante „Deutsche Einheit“ habe ich wie viele überlegt, jedoch nicht gefordert. 

Die DDR war das Land der Jugend jedes Einzelnen, der in ihm geblieben war. Der Staat an dessen Lebens-Bedingungen sich die meisten seiner Bürger mehr oder minder geschickt angepasst hatten. Ich unter ihnen. Wie heute hier und überall. 
Die Revolutionäre sind immer wenige. Ihre Vorstellungen sind wohl hin und wieder neu – nur nicht so umzusetzen, wie ausgedacht. Denn die Organisation des staatlichen, gesellschaftlichen Zusammenlebens geht am Ende immer auf die „Staatsgewalt“ hinaus, welche laut Grundgesetzen und Verfassungen fast in aller Welt demokratisch „vom Volk“ ausgeht. 
Wenn dann jedoch „das Volk“ zu regieren beliebt, gibt es die „aktive Kritik“ von der Straße. Selten von Sachkenntnis geprägt, vorwiegend von unerfüllbaren Wünschen. 

Die Nacht vom 09. November zum 10.11.1989 war die vieler Illusionen. Nach der Sondermeldung im Fernsehen von 19.43 Uhr. Überschäumende Freude nicht nur am Grenzübergang Bornholmer Straße, und nicht nur in Berlin damit verbundene Erwartungen.

Meine Töchter waren ungeduldig, gingen mit Erlaubnis in den Westen, kamen müde und mit weniger Knöpfen an ihren Mänteln zurück. „Wie billig dort der Bohnenkaffee ist und die Strumpfhosen.“ „In einiger Zeit werden Mieten und anderes das Geld für teurer werdenden Kaffee und auch Strumpfhosen schon auffressen.“ „Bei deiner Vergangenheit musst du ja meckern.“ 

Die Ernüchterung hat eine Generation gedauert, die 25 Jahre bis heute. 
Denn in aller Welt war niemand auf diesen Sprung in der Entwicklung vorbereitet. Nach eigenen, heute vergessenen Bemerkungen hatte auch die Bundesregierung kein Konzept für eine solche überraschende Situation. Das alte Rezept hieß aktuell, dass im Osten blühende Landschaften geschaffen würden. Und das erwartungsvolle Volk glaubte auch an diese Version – wie vorher lange an die vom selig machenden Sozialismus. 

Hat sich inzwischen auch mit nicht mehr so verschleierter Arbeitslosigkeit abgefunden. Die höher ist als in den so genannten „alten Bundesländern“. Weil für die blühenden Landschaften viele uralte Fabriken geschleift werden mussten. 

Ja, es gibt jene, die durch Helfer im Machtapparat der DDR Unrecht erlitten. Allerdings wird übersehen, dass wesentlich mehr Bürger in der DDR auch durch staatlich gelenktes Recht nicht gelitten haben. Sondern gelebt. Mit allen Sorgen und Freuden eines menschlichen Lebens. 
Übersehen wird, dass mit „Gott Westgeld“ (heute Euro) nette kleine Anhängsel zu den erklärten „westlichen Werten“ Freiheit und Demokratie dazu kamen wie wachsende Armut, Pornographie, Prostitution, Drogenkonsum, Kidnapping, Terrorismus  und dergleichen. Aber Licht ist ohne Schatten eben nicht zu haben. Gewöhnliche Physik. 

Nun wird in meiner Ehefrau Heimatland erneut eine Mauer errichtet. Um zwei slawische Staaten gegeneinander abzuschotten. Für ein Vierteljahrhundert reicht meine Lebenskraft nicht mehr. Aber ich bin sicher, dass diese durch unvernünftiges Handeln einer Seite des Konflikts in der Ostukraine provozierte Abgrenzung eines Tages fällt. Unnötig war aus vernünftiger Sicht. Aber erforderlich im Zwischenstadium, welches diese Situation charakterisiert. 

Bleiben Sie recht gesund! 

Ihr 

Siegfried Newiger

P. S. vom 10.11.2014, morgens

Natürlich hätte ich besser formulieren müssen. In der Ukraine wird nicht erneut eine Mauer aufgebaut. Fehlende Grenzbefestigungen nach Nordosten haben die heutige Situation für Separatisten und deren Hintermänner begünstigt. Deshalb wird in der Welt erneut eine Mauer gebaut. Diesmal in der Ukraine.  

S. Newiger







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