Donnerstag, 22. September 2016

Ansichten beiderseits



Obwohl ich schon wieder einige Tage in der Ukraine bin, lässt mich die Situation in Deutschland nicht los. Denn die Wahlen in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin-Marzahn besonders werfen ihre Schatten bis hierher. Weil nicht wenige politisch aktiver Ukrainer mir die Frage stellen: „Wie beurteilst du diese Ergebnisse?“ Sie haben die AfD als extrem nationalistische Kraft erkannt und vergleichen sie mit ähnlichen politischen Kräften im eigenen Land. 
Dazu kommt, dass die genannten Bereiche ja vorwiegend in der ehemaligen DDR liegen. In der auch ich von Beginn bis Ende gelebt habe. Dass „unsere Deutschen“ (psychologisch sind jene mit selbst geringen Russischkenntnissen fast eingemeindet) solche Entscheidungen treffen, ist manchem hier unfassbar. 
Die meisten meiner Versuche einer erklärenden Begründung scheiterten und scheitern. Weil in der Ukraine bei vielen Menschen ein besonders stark idealisiertes Deutschlandbild existiert. Ebenso besitzen nicht wenige deutsche Normalverbraucher sehr unklare Vorstellungen von diesem Land, seinen Bewohnern und einfachsten mentalen Unterschieden gegenüber dem westeuropäischen und in diesen Fall dem deutschen Kulturkreis. 
Wenn ich das „deutsche Ideal“ der Wahrheit entsprechend etwas an die Wirklichkeit annähern will, komme ich häufig in die Position des „Nestbeschmutzers“. Auch der Hinweis darauf, dass schon einige Millionen Ukrainer „mit den Füßen abgestimmt“ haben, legal oder illegal im Ausland sind, also die Entwicklung in ihrer Heimat ebenfalls sehr kritisch sehen, überzeugt nicht. 
Dass in der Ukraine mit dem Argument: „Bleibt wo ihr herkommt – ihr habt doch Putin gerufen!“ eine Diskussion gegen die etwa 1,5 Millionen Flüchtlinge aus den Ostgebieten existiert, welche sich nicht viel von jener der AfD unterscheidet, wird anerkannt. Das Gegenargument: „Bei euch kommen die aber aus Ländern, die materiell und kulturell völlig verschieden sind.“ 
Die Turbulenzen in Deutschland und Westeuropa lassen zwar nicht bei den Offiziellen und Entscheidungsträgern in der Ukraine die Stimmung sinken. Aber selbständig Denkende in der Bevölkerung beginnen zu ahnen, dass die Option Westeuropa doch zunehmend nicht nur die versprochene Visafreiheit, sondern dazu einige Probleme ökonomischer Natur mit sich bringt. Darüber haben zwar alle ukrainischen Politiker mit unterschiedlicher Intensität gesprochen, teilweise auch abgewiegelt. Aber wer lässt sich gern seine Hoffnung rauben? 

In Berlin habe ich wieder die Probleme Altersarmut verstärkt behandelt gesehen, außerdem die Fakten zur Bedürftigkeit von etwa 40 % deutscher Schulkinder. Die Rente von 650 € nimmt der Ukrainer mit 30 mal. Für ihn – oder sie – sind 18.500 Hrywna eine erstrebenswerte Rente. Sie sind jedoch mit den Mieten, den Preisen für Waren oder Dienstleistungen in Deutschland nicht vertraut. Folglich verstehen sie nicht, dass eine einzelne Person mit diesen alleinigen Einkünften in der BRD unter dem Existenzminimum vegetieren muss. 
Dass in 2014 in Deutschland nach begründeter Schätzung 335.000 Personen wohnungslos waren, entsprechende Hilfsverbände bis 2018 den Anstieg auf etwa 536.000 Wohnungslose erwarten, wird mir nicht abgenommen. Das kann und darf deswegen für die meisten Ukrainer im reichen Deutschland nicht möglich sein. 

Die beiderseits vorherrschenden Auffassungen vom Anderen sind deutlich nicht stichhaltig in allen Fällen. Was die extremistischen Vertreter beider Nationen anbetrifft: Extremismus ist auch bei denjenigen vorhanden, welche die Flüchtlingsströme verursacht haben, die eine solche Haltung bestärken. Zusammenrücken und Teilen ist ein Zeichen humanitärer Gesinnung. Die gewöhnlich laut auch von ihnen eingefordert wird, wenn es den Extremisten persönlich schlecht geht. 

Bleiben Sie recht gesund! 

Ihr 

Siegfried Newiger





Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen