Dienstag, 9. Juni 2015

Meinungsvielfalt...



Bevor der ukrainische Präsident Petro Poroschenko am 04. Juni 2015 seine erste jährliche Botschaft an die Werchownaja Rada – das ukrainische Parlament - vortrug, hatte es schon Stimmen zu seinem Jahr im Amt im Fernsehen gegeben. Am Tag nach dieser politischen Erklärung war für Journalisten eine große Pressekonferenz organisiert. Auf ihr stand der Präsident den Massenmedien Rede und Antwort zu Passagen aus genannter Botschaft, welche den Journalisten und vor allem dem „Mann von der Straße“ nicht bis zum Ende verständlich geworden waren. Nebenbei gesagt ist der berühmte „mittlere Bürger“ schon recht politikmüde. Deswegen kommentieren vor allem jüngere Personen, die noch politische Illusionen haben, die aktuellen Ereignisse. 
Poroschenko kritisierte sowohl sich als auch alle Bereiche der Staatsmacht für die zwar geleistete, allerdings nicht genügend effektive Arbeit. Wenn nicht eben wenige Bürger des Landes zu den schon auf den Weg gebrachten  Reformen und anderen Vorgängen keine positive Meinung haben, werde man in Zukunft das Prinzip der persönlichen Verantwortung für Amtsinhaber noch radikaler anwenden müssen. 
Seine Haltung zu den westlichen Verbündeten ist geprägt von Verständnis dafür, dass diese sachlich gesehen zwischen zwei Stühlen sitzen. Russland ist für viele Bereiche der Weltpolitik ein unverzichtbarer, wenn auch schwieriger Partner.
Der Kampf einerseits an der ukrainischen Ostfront, zum anderen an der diplomatischen geht weiter mit dem Ziel, die Vereinbarungen von Minsk voll durchzusetzen. Von der Meinung, dass der Donbass und auch die Krim zur Ukraine gehören, gehe man nicht ab. Er dankte den ukrainischen Kämpfern und den Volontären für beider aufopferungsvollen Einsatz. 
Die gesamte Rede habe ich nicht verfolgt oder nachgelesen. Das saubere Ukrainisch des Präsidenten ist für mich bei komplexen Zusammenhängen auf Dauer doch nicht fehlerfrei fassbar. Weil ich nur Russisch genügend verstehe.

Die Pressekonferenz am Folgetag hat mir mehr gegeben. Meist kurze Fragen und relativ übersichtliche, sachliche, mir doch verständliche Antworten. Die politischen Bestandteile entsprachen seiner Rada-Botschaft, waren etwas mit Beispielen untersetzt. Zwei Fragen, welche die ukrainischen Menschen interessieren. 
Jene, die im Ausland arbeiten wollen, beunruhigt jede Verzögerung bei der Frage visafreier Reisen. Da gibt es ukrainischen Nachholebedarf, meinte der Präsident – das wären vor allem technologische Probleme, aber auch der Reformstau. Er informierte in seiner Antwort gleich darüber, dass der Chef der Immigrationsbehörde seinen Rücktritt eingereicht hätte. Aus dem, was ich bisher verfolgt habe, ist das nur eine Hälfte der Antwort. Die andere besteht – nach meiner Meinung – in der unberechtigt geschürten Auffassung vor den Präsidentenwahlen, dass die Visafreiheit schon zum Jahresende 2014 Wirklichkeit werden könne. Obwohl von Seiten der EU recht deutliche Forderungen gestellt wurden, welche ein vorsichtigeres Herangehen an das Problem signalisiert haben. Poroschenko wird in diesem Bereich noch viele Stimmen verlieren. 
Zur Veräußerung seiner Unternehmen bekamen die Journalisten eine Antwort, die bei aufmerksamer Verfolgung russischer Verlautbarungen hätte bekannt sein können. Das Unternehmen in Lipezk ist von russischer Seite beschlagnahmt. Poroschenko sucht mit Hilfe spezieller westlicher Beratungsunternehmen den Weg, es für die Transaktion frei zu bekommen. 
Eine Journalistin, welche den verzögerten Befestigungsausbau an der Frontlinie ansprach, lud der Präsident dazu ein, ihn Mitte Juni mit dorthin zu begleiten, damit sie nicht nur Worte zu hören bekäme. 
Neu und folgerichtig war die Antwort an einen japanischen Journalisten. Dieser sprach den Besuch des japanischen Ministerpräsidenten  Shinzo Abe an und fragte nach den damit verbundenen Erwartungen. Präsident Poroschenko erwiderte, dass es der erste Besuch eines so hochrangigen japanischen Politikers in der Ukraine sei. Die Beziehungen zu Japan seien so gut wie nie zuvor. Er habe vor, seinem Gast zu sagen, dass die russische unrechtmäßige Truppenpräsenz auf nicht zu Russland gehörigen Inseln Verurteilens wert sei. Noch nie hat meines Wissens ein ukrainischer Politiker verbal so deutlich in den Konflikt zwischen Russland und Japan um die südlichen Kurilen-Inseln eingegriffen. 
Zudem sollte da offensichtlich etwas politisch bereinigt werden. Denn im März 2015 hatte erstaunlicher Weise der ehemalige japanische Ministerpräsident Yukio Hatoyama die Krim besucht. Außenminister Fumio Kishida erklärte damals, dass  dieser Besuch mit der Position der Regierung Japans nicht übereinstimmt, welche die russische Annexion der Krim nicht anerkenne. 

Verfolgt man die Diskussionen in unterschiedlichen Talkshows, ist deutlich, wie extrem unterschiedlich die Meinungen im Land sind. Das kommt auch in zwei Episoden zum Vorschein. 
Der Wirtschaftsminister der „Oppositionsregierung“ – die gibt es wahrhaftig! – sagte z. B. in einem Fernsehgespräch (Meinungsfreiheit!), dass die Kreditaufnahme der Ukraine zwar gesichert sei, die Kreditgeber an diese aber „antiukrainische Bedingungen“ gebunden haben, welche die gegenwärtige Regierung akzeptiert. Hier erinnere ich mich erneut an das Buch "Showdown" von Dirk Müller. Das darin sachlich überzeugend erläuterte Kredit-Szenarium Griechenland läßt grüßen...
Dann rechnete  Ministerpräsident Jazenjuk in der Werchowna Rada öffentlich vor, dass die Ukraine dank des von Julia Timoschenko unterschriebene Vertrages an Gazprom seitdem mehr als 16 Milliarden US-$ überzahlt habe, welche man hätte für soziale Zwecke im Lande einsetzen können. Die Dame reagierte prompt. Es sei nicht nur eben einmalig der Versuch, der Partei „Batkovtshina“ (Vaterland) Dinge anzulasten, für welche die nicht verantwortlich sei. Natürlich hat eine Partei keine Verantwortung für die Handlung ihrer Oberen – aber so kann man von persönlicher Verantwortung ablenken. 

Bleiben Sie recht gesund!

Ihr

Siegfried Newiger 








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