Bevor der ukrainische Präsident Petro Poroschenko am 04. Juni 2015 seine
erste jährliche Botschaft an die Werchownaja Rada – das ukrainische Parlament -
vortrug, hatte es schon Stimmen zu seinem Jahr im Amt im Fernsehen gegeben. Am
Tag nach dieser politischen Erklärung war für Journalisten eine große
Pressekonferenz organisiert. Auf ihr stand der Präsident den Massenmedien Rede
und Antwort zu Passagen aus genannter Botschaft, welche den Journalisten und
vor allem dem „Mann von der Straße“ nicht bis zum Ende verständlich geworden
waren. Nebenbei gesagt ist der berühmte „mittlere Bürger“ schon recht
politikmüde. Deswegen kommentieren vor allem jüngere Personen, die noch
politische Illusionen haben, die aktuellen Ereignisse.
Poroschenko kritisierte
sowohl sich als auch alle Bereiche der Staatsmacht für die zwar geleistete,
allerdings nicht genügend effektive Arbeit. Wenn nicht eben wenige Bürger des
Landes zu den schon auf den Weg gebrachten Reformen und anderen Vorgängen keine positive
Meinung haben, werde man in Zukunft das Prinzip der persönlichen Verantwortung für
Amtsinhaber noch radikaler anwenden müssen.
Seine Haltung zu den westlichen
Verbündeten ist geprägt von Verständnis dafür, dass diese sachlich gesehen
zwischen zwei Stühlen sitzen. Russland ist für viele Bereiche der Weltpolitik
ein unverzichtbarer, wenn auch schwieriger Partner.
Der Kampf einerseits an der
ukrainischen Ostfront, zum anderen an der diplomatischen geht weiter mit dem Ziel,
die Vereinbarungen von Minsk voll durchzusetzen. Von der Meinung, dass der
Donbass und auch die Krim zur Ukraine gehören, gehe man nicht ab. Er dankte den
ukrainischen Kämpfern und den Volontären für beider aufopferungsvollen Einsatz.
Die gesamte Rede habe ich nicht verfolgt oder nachgelesen. Das saubere
Ukrainisch des Präsidenten ist für mich bei komplexen Zusammenhängen auf Dauer
doch nicht fehlerfrei fassbar. Weil ich nur Russisch genügend verstehe.
Die Pressekonferenz
am Folgetag hat mir mehr gegeben. Meist kurze Fragen und relativ übersichtliche,
sachliche, mir doch verständliche Antworten. Die politischen Bestandteile
entsprachen seiner Rada-Botschaft, waren etwas mit Beispielen untersetzt. Zwei Fragen,
welche die ukrainischen Menschen interessieren.
Jene, die im Ausland arbeiten
wollen, beunruhigt jede Verzögerung bei der Frage visafreier Reisen. Da gibt es
ukrainischen Nachholebedarf, meinte der Präsident – das wären vor allem technologische
Probleme, aber auch der Reformstau. Er informierte in seiner Antwort gleich
darüber, dass der Chef der Immigrationsbehörde seinen Rücktritt eingereicht
hätte. Aus dem, was ich bisher verfolgt habe, ist das nur eine Hälfte der
Antwort. Die andere besteht – nach meiner Meinung – in der unberechtigt
geschürten Auffassung vor den Präsidentenwahlen, dass die Visafreiheit schon
zum Jahresende 2014 Wirklichkeit werden könne. Obwohl von Seiten der EU recht
deutliche Forderungen gestellt wurden, welche ein vorsichtigeres Herangehen an
das Problem signalisiert haben. Poroschenko wird in diesem Bereich noch viele
Stimmen verlieren.
Zur Veräußerung seiner Unternehmen bekamen die Journalisten
eine Antwort, die bei aufmerksamer Verfolgung russischer Verlautbarungen hätte
bekannt sein können. Das Unternehmen in Lipezk ist von russischer Seite beschlagnahmt.
Poroschenko sucht mit Hilfe spezieller westlicher Beratungsunternehmen den Weg,
es für die Transaktion frei zu bekommen.
Eine Journalistin, welche den
verzögerten Befestigungsausbau an der Frontlinie ansprach, lud der Präsident dazu
ein, ihn Mitte Juni mit dorthin zu begleiten, damit sie nicht nur Worte zu
hören bekäme.
Neu und folgerichtig war die Antwort an einen japanischen
Journalisten. Dieser sprach den Besuch des japanischen Ministerpräsidenten Shinzo Abe an und fragte nach den damit verbundenen
Erwartungen. Präsident Poroschenko erwiderte, dass es der erste Besuch eines so
hochrangigen japanischen Politikers in der Ukraine sei. Die Beziehungen zu
Japan seien so gut wie nie zuvor. Er habe vor, seinem Gast zu sagen, dass die
russische unrechtmäßige Truppenpräsenz auf nicht zu Russland gehörigen Inseln Verurteilens
wert sei. Noch nie hat meines Wissens ein ukrainischer Politiker verbal so
deutlich in den Konflikt zwischen Russland und Japan um die südlichen
Kurilen-Inseln eingegriffen.
Zudem sollte da offensichtlich etwas politisch bereinigt
werden. Denn im März 2015 hatte erstaunlicher Weise der ehemalige japanische
Ministerpräsident Yukio Hatoyama die Krim besucht. Außenminister Fumio Kishida
erklärte damals, dass dieser Besuch mit
der Position der Regierung Japans nicht übereinstimmt, welche die russische
Annexion der Krim nicht anerkenne.
Verfolgt man die Diskussionen in
unterschiedlichen Talkshows, ist deutlich, wie extrem unterschiedlich die
Meinungen im Land sind. Das kommt auch in zwei Episoden zum Vorschein.
Der Wirtschaftsminister
der „Oppositionsregierung“ – die gibt es wahrhaftig! – sagte z. B. in einem
Fernsehgespräch (Meinungsfreiheit!), dass die Kreditaufnahme der Ukraine zwar
gesichert sei, die Kreditgeber an diese aber „antiukrainische Bedingungen“
gebunden haben, welche die gegenwärtige Regierung akzeptiert. Hier erinnere ich mich erneut an das Buch "Showdown" von Dirk Müller. Das darin sachlich überzeugend erläuterte Kredit-Szenarium Griechenland läßt grüßen...
Dann rechnete Ministerpräsident Jazenjuk in der Werchowna
Rada öffentlich vor, dass die Ukraine dank des von Julia Timoschenko unterschriebene
Vertrages an Gazprom seitdem mehr als 16 Milliarden US-$ überzahlt habe, welche man hätte
für soziale Zwecke im Lande einsetzen können. Die Dame reagierte prompt. Es sei
nicht nur eben einmalig der Versuch, der Partei „Batkovtshina“ (Vaterland) Dinge anzulasten,
für welche die nicht verantwortlich sei. Natürlich hat eine Partei keine Verantwortung
für die Handlung ihrer Oberen – aber so kann man von persönlicher Verantwortung
ablenken.
Bleiben Sie recht gesund!
Ihr
Siegfried Newiger
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