Wenn Präsident Poroschenko davon spricht, dass die russische Seite es wegen
der stabilisierten Kampfkraft der ukrainischen bewaffneten Kräfte nicht mehr
auf eine direkte militärische Konfrontation ankommen lassen wird, sondern auf
Auflösungserscheinungen im Inneren des Landes setzt, sollte das kommentiert
werden.
Da ist als erstes die sehr notwendige, aber vor allem bei den Ärmsten
am meisten fühlbare Erhöhung der Tarife für Mieten und Energie- sowie
Wasserversorgung als auch die relativ umfassende Begrenzung von Renten und
Mindestlöhnen. Dazu kommen eine Reihe hausgemachter Probleme.
Eines der
spektakulärsten: die Brand-Katastrophe in einem Tanklager bei Wassilkow, einer
Kleinstadt unweit Kiew. Aus einem Luftbild der Umgebung dieses Objekts geht
hervor, dass schon mit der Genehmigung zum Ausbau des Tanklagers die ukrainische
Gesetzgebung massiv verletzt wurde. Denn in unmittelbarer Nähe liegt eine
militärische Kaserne, in deren Lagern Gefechtsmunition aufbewahrt wird. Des Weiteren
gibt es auf der anderen angrenzenden Fläche auch noch ein Tanklager. Dieses mit
nicht ungefährlichen Chemikalien. Leider habe ich nicht genau erfassen können,
was dort konkret eingelagert ist. Aber die Reporter haben unter Berufung auf Experten
des Bauwesens klar machen können, dass die geschilderte Konzentration von
gefährlichen Objekten eindeutig
den ukrainischen Sicherheitsbestimmungen widerspricht. Vor allem betrifft das an den Behältern des Tanklagers fehlenden
Überlaufschutz und geforderte Löschautomatik… Da die Anlagen schon vor längerem
gebaut wurden, können diese „Altlasten“ der neuen Staatsmacht allerdings nicht
angelastet werden.
Der Grund für die Katastrophe war angeblich der wie gewohnt
praktizierte Versuch, gepanschtes Benzin herzustellen, um an der Preisdifferenz
zu verdienen. Ein Schlauch sei geplatzt, hätte die Beteiligten sowie ihre
unmittelbare Umgebung mit Benzin durchnässt. Durch Funkenflug aus dem Bereich der
elektrisch betriebenen Pumpe wäre das Feuer entstanden. Die erste Reaktion: es mit
eigenen Mitteln löschen, damit nichts von der Panscherei an die Öffentlichkeit
dringt. Dadurch ist die weitaus mächtigere Feuerwehr erst gerufen worden, als
es zu spät war.
In einem Fernsehprogramm zur Veröffentlichung von Ergebnissen
journalistischer Untersuchungen ein Fall, der mich erschauern lässt.
In Donezk
gab es ein Unternehmen, das mit seiner patentierten Technologie preisgünstig Borsäure
höchster Qualität herstellte. Diese wird als so genannte „Bremsflüssigkeit“ in
der ersten Kontur von Atommeilern in Kernkraftwerken verwendet. Um die dort frei
werdenden Elektronen zu bremsen, also unkontrollierte Kernreaktionen zu
verhindern.
Weil die Produktion in Donezk nicht aufrechterhalten werden konnte,
ist der entscheidende Unternehmer mit seinem Stab in eine andere Stadt gezogen.
Wenn ich recht erinnere, nach Tscherkassy. Um sein Werk im Interesse auch des
Landes dort neu aufzubauen, dessen Produktion fortzusetzen. Das durch diese
Tatsache allein schon widerlegte Gerücht, er sei ein „offener Separatist“, hat
den Sicherheitsdienst auf den Plan gerufen. Obwohl die Reserven der
Atomkraftwerke an Borsäure beginnen, langsam ihre kritische Grenze zu
erreichen, die Konkurrenten zu höheren Preisen minderwertigere Ware liefern,
muss der Mann, der Arbeitsplätze schaffen und ein strategisch wichtiges Produkt
produzieren lassen will, von einem Amt zu anderen rasen und auch noch den Sicherheitsdienst
von seiner Rechtschaffenheit überzeugen.
Eine moderne Variante der Arie „Die
Verleumdung, sie ist ein Lüftchen …“ aus dem „Barbier von Sevilla“. Nur untergräbt
dieses Vorgehen das Vertrauen in die Staatsmacht weiter… So bekommt unlauterer
Konkurrenzkampf eine politische Komponente…
Wie gefällt das folgende Schema? Mit
einem oder einigen Federstrichen verwandelte der damalige Beamte und heutige Bürgermeister
einer idyllischen Kleinstadt nahe Kiew einige hundert Quadratmeter Boden in
einem begehrten Areal in Bauland, das er seinem einstigen Unternehmen zum
Spottpreis zuschanzte. Danach brachte er diese Fläche zum wahren Marktwert als
seinen Anteil in ein Bauunternehmen ein. Als Gegenleistung bekam er laut
Steuererklärung von 2013 nach deren Fertigstellung 47 Wohnungen übereignet.
Davon waren zum Zeitpunkt der gesendeten Reportage schon 24 verkauft. Selbst wenn
sich die Immobilienpreise in der Ukraine sehr von deutschen unterscheiden – für
die erlöste Summe müsste eine ukrainische Rentnerin ganz schön lange stricken…
Auch
aus den Ergebnissen der journalistischen Nachforschungen: die eindeutigen
Absprachen zwischen am Gewinn aus staatlichen Aufträgen sehr interessierten Firmen führten dazu, dass auf
Ausschreibungen für Lieferung von Kraftstoffen an bewaffnete Kräfte der
Zuschlag an jene ging, welche mit ihren Lieferungen Sondergewinne aus der
Staatskasse einfuhren…
Als letztes trauriges Beispiel eins aus dem Bereich Rechtsprechung.
Da gab es das Amtshilfeersuchen italienischer Stellen über Interpol, einen
Grusinier (Georgier) auszuliefern, der es geschafft hatte, als Mitglied einer
mafiaähnlichen Gruppierung doch in die Ukraine zu entkommen. Hier wurde er
festgesetzt. Trotz der erdrückenden Beweise hob ein ukrainischer Richter den Haftbefehl
auf. Der Mafiosi ist auf freiem Fuß. Wo - das war unbekannt.
Nicht nur beim erwähnten Richter tauchen
in den Steuererklärungen unter „Geschenke“ Summen wie 1,2 Millionen Hrywna auf.
Ein Schelm, der Arges dabei denkt …
Da ist es sicher noch ein weiter Weg, bis die seit
einiger Zeit eingeleiteten Antikorruptionsmassnahmen und die so genannte „Lustration“
(Durchleuchtung ehemaliger dienstlicher Tätigkeit von Amtsinhabern) so greifen,
dass die Bevölkerung deren Wirkung deutlich spürt. Zu dem Staat, den viele
aktiv verteidigen, eine begründetere Bindung findet. Den damit Beschäftigten
wünsche ich Erfolg und Rechtschaffenheit.
Bleiben Sie recht gesund!
Ihr
Siegfried Newiger
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