Freitag, 26. September 2014

Unterschiede im Meinungsbild...

Der ukrainische General im Ruhestand, welcher mit seinen Pioniertruppen einst, noch zu Zeiten der Sowjetunion, einige Teile der Stadt Belaja Zerkow aufgebaut hat, kam mir gestern auf meinem Weg zum Markt mit einem Lächeln entgegen. Er möchte mich als einen Freund und doch Ausländer etwas fragen. Ob ich mir vorstellen könne, dass es jemanden gäbe, der sich angesichts der Situation im Lande wohlfühlen könne. 
Ich sagte ihm, dass ich mich bei meiner ukrainischen Familie doch sehr gut aufgehoben fühle. Er stellte die Frage erneut - nur anders. Ob ich das auch für ukrainische Bürger so sehe. Ich wies ihn höflich darauf hin, dass ich eben kein Bürger des Landes bin. Mir aber - nicht allein - aus drei im Fernsehen gezeigten Meinungen, dazu aus Informationen über das Alltagsleben hier ein sehr widersprüchliches Bild der innenpolitischen Situation machen kann. 
Da ist die junge Frau, Mutter eine drei- oder vierjährigen Tochter, welche freiwillig an die Ostfront ging, dort als Gleiche unter den Männern kämpfte und in Urlaub kam. Ein besonders offenes Bekenntnis zu ihrem Vaterland. 
Da sind jene, die Schuld tragen daran, dass die zäh und auch erfolgreich kämpfende Truppe vor allem zu Beginn der militärischen Auseinandersetzung viel an unbrauchbarer, überlagerter und ausgeraubter Technik und sogar an unverwendbarer Munition bekam. 
Da sind alle jene Männer, welche aus den umkämpften Gebieten ins Hinterland flüchteten, nicht bereit, die eigene Heimat vor Ort zu schützen. 
Daneben die Berichte von Hochzeiten in Familien von Bekannten. Fühlen die Brautleute und ihre Gäste in dieser Veranstaltung vor allem "für die Ukraine"? Oder ich sehe  jung Verliebte - denen ist doch die Welt um sich herum absolut egal... 
Das sind winzig kleine Teile der "öffentlichen Meinung", der sehr komplizierten innenpolitischen Situation. Ich erfasse sie und bilde mir eine für die Ukraine dennoch positive Meinung. Er verabschiedete sich danach von mir sehr freundschaftlich. Er glaube, dass ich zu ihm ehrlich war.

Am Nachmittag und in den Abendstunden des Tages sah und hörte ich die Pressekonferenz des ukrainischen Präsidenten. Pjotr Poroshenko formulierte sehr genau und dazu auch staatsmännisch klug. Außerdem sprachlich so sauber auf Ukrainisch, dass ich das meiste verstand.  
Er sprach viele Probleme an. Sehr bildhaft, dass die mit hohem Einsatz kämpfenden Einheiten sich zu Beginn "mit leeren Konservendosen" wehren mussten. Mit 30 Jahre gelagerter, technisch veralteter und dazu ausgeschlachteter Militärtechnik. Die dafür Verantwortlichen sollten dafür auch gerade stehen müssen. Allerdings auch, dass die in drei Schichten arbeitenden Werke der Verteidigungsindustrie zur Zeit auch täglich mindestens dreißig modernisierte Panzer und gepanzerte Fahrzeuge bereit stelle. 
Dass seine kritisierte politische Entscheidung wie die, den Kriegszustand nicht auszurufen und so keine bürgerlichen Freiheiten zu beschränken, dazu beigetragen hat, dass die Ukraine Achtung und Unterstützung aus aller Welt erfährt. Die wären mit Kriegszustand und totaler Mobilisierung nicht so deutlich und wirksam. 
Auch die Absage an das Ersuchen um UNO-Kontingente zur Friedenserreichung sei überlegt getroffen worden. Die Länder, welche dazu durch die eigene kritische Situation genötigt worden wären, hätten danach nicht mehr ihre volle Souveränität ausüben können. Das wurde vermieden. 

Die Pressekonferenz war für mich auch "menschlich warm". Zwei Beispiele: die Bitte des Präsidenten, dass sich eine ukrainische Journalistin, deren Berufskollege und Mann nach ihrem Wissen in Gefangenschaft sei, auf ukrainischer Seite aber angeblich "in den Listen zum Austausch nicht erfasst" nach der Pressekonferenz direkt bei ihm melden solle. Oder die zweite Bitte an einen ihm direkt bekannten Journalisten, der aus unbekanntem Grund gehen wollte, dass er bitte bleiben und sofort seine Frage stellen solle.

Bleiben Sie recht gesund!

Ihr

Siegfried Newiger





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