Mittwoch, 8. Juni 2016

Totensonnabend



In der Ukraine fiel der Ostersonntag diesmal auf den 1. Mai – etwas außergewöhnlich. Die Verwerfungen im Plan der Arbeitszeiten lasse ich beiseite. Denn es geht – wenn auch im Nachhinein – um den Ostersonnabend. 
Hier in der Stadt und auch auf dem Lande wurde er als Totengedenktag begangen. Es ist die sehr dem Leben zugewandte Denkart der Slawen, diesen Tag im Frühling zu begehen. Nicht wie der feuchte Novembertag, an welchem wir in Deutschland unserer Ahnen gedenken. Von dem Heinrich Heine im „Wintermärchen“ passend schrieb: „Im traurigen Monat November war's, die Tage wurden trüber…“ 
Außerdem ist der hiesige Gedenktag echt dem Leben zugewandt – wie ich nach 21 Jahren im Lande deutlich bemerke. 
Schon Wochen zuvor sieht man an und vor allen Märkten zusätzliche Verkaufsstände, an denen Papierblumen und Gebinde daraus feilgehalten werden. 
Mich verwunderte daheim, dass meine Ehefrau die Blüten aller gekauften Blumen mit veschiedenfarbigem Nagellack zusätzlich „dekorierte“. Erklärung: sie wolle nicht, dass diese von der Grabstelle entfernt und wiederverkauft würden! 

Ist der Feiertag gekommen, begeben sich die lebenden Familienmitglieder auf die Friedhöfe. Die kurz zuvor – meist eine Woche – in Ordnung gebrachten Grabstellen (Unkraut entfernen, Gitter streichen u. s. w.) werden mit den Papierblumen (immer streng in gerader Anzahl – zu anderen Anlässen werden immer Blumen mit ungerader Blütezahl überreicht) ausgeschmückt und vor den Grabsteinen wird etwas zum Essen (Brotscheiben bzw. ein Stück des „pas´cha“ genannte Osterkuchens, dazu ein gefärbtes Ei und Bonbons oder etwas Konfekt) als Gabe für den Verstorbenen abgelegt. Jeder Tote, auch die Frauen, bekommt ein kleines Glas Wodka beigestellt. 
Die Hinterbliebenen nehmen an den Gräbern einen kleinen (manchmal auch soliden) Imbiss ein, trinken einen Wodka ohne anzustoßen darauf, dass „die Erde ihnen leicht sei“ und gehen nach angemessener Zeit heim. 

Unsere „Zeremonie“ war in diesem Jahr etwas ereignisreicher. Wie in jedem Jahr, hatte die Polizei die Anfahrt zum Friedhof als Einbahnstraße gestaltet. Wir parkten in einer Lücke weit vor dem Parkfeld, das wir gewöhnlich aufsuchten. Deshalb sah ich auch zum ersten Mal eine beachtlich große Gruppe von Zigeunern, zwischen denen gefüllte Säcke standen oder lagen. Sie räumen von allen durch die Besucher verlassenen Gräbern die Grabbeigaben ab und verwenden vor allem Backwaren als Viehfutter. Dass der eine und andere vom geleerten Wodka schon Schlagseite hatte, ist ein Teilthema. 
Als ich am Eingang zum Friedhof einer wirklich bedürftig aussehenden Oma das Kleingeld aus meinem Taschengeld reichen wollte, bremste mich meine Natascha unsanft. „Nachher, beim Rausgehen. Oder willst du Eintritt bezahlen?“ 
Auf dem Weg zu den Grabstätten ihrer Eltern und Großeltern kam uns ein Priester in Ornat entgegen. Er wendete sich auf gleicher Höhe mir zu: „Guten Tag, Herr Siegfried, schön sie zu sehen. Vater Alexander – sie erinnern sich?“ Wir waren gemeinsam einmal von Berlin bis an die ukrainische Grenze in einem von der Kurie gekauften Kleinbus gefahren, welcher in Polen demontiert und danach bei ganz bedeutender Verringerung des Einfuhrzolls als „Ersatzteilspender“ in die Ukraine kommen sollte. Wir sprachen kurz miteinander – er war auf unserer Reise ein angenehmer Partner. 
Anschließend sah ich, wie eine offensichtlich sehr bejahrte, aber einsame Frau ihren Gedenktag begann. Offensichtlich nur im „Genuss“ einer schmalen Rente – vielleicht sogar unterhalb des staatlich fixierten Existenzminimums – ging sie mit einer einzigen  Papierblüte und einem Taschentuch mit winzigen Speiseinhalt zum Grab eines ihr teuren Menschen… 
Wir erfüllten an den Gräber unserer Verblichenen die traditionellen Pflichten. Noch während wir etwas aßen und tranken, streifte eine bejahrte Zigeunerin an den Gedenksteinen vorbei. Natascha bat sie sehr deutlich, ihre erkennbare Absicht erst nach unserem Fortgang zu vollenden… 

Auf Bitte meiner Frau änderten wir unseren Rückweg. Als erstes zeigte sie mir einen Gedenkstein, der so protzig war, dass ich erneut an die arme Frau auf dem Hinweg denken musste… Aber die große Überraschung kam, als ich auf der Hauptallee zu den Gräbern der in der Ostukraine vor Kurzem erst gefallenen Kämpfer aus Bila Tserkwa kam. 
Nicht umsonst hat die Stadt diesen ihren ehemaligen Bürgern einen besonderen, einen Ehrenplatz eingerichtet. Er ist nur mit dem Wort „würdig“ bestmöglich zu charakterisieren. Es bleibt zu hoffen, dass die Zahl der vorhandenen Gräber nicht weiter zunimmt. 
Mein Widerwille gegen jede Art militärischer Gewalt ist weiter gewachsen. Frei nach dem Satz: „Jeder Soldat ist ein potentieller Mörder“ sind für mich ukrainische und russische Opfer eines von politischen Führern angezettelten militärischen Konflikts in der Doppelrolle Täter-Opfer zu bedauern. Denn die Organisatoren trifft es doch nicht… 

Bleiben Sie recht gesund! 

Ihr 

Siegfried Newiger





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