In der Ukraine fiel
der Ostersonntag diesmal auf den 1. Mai – etwas außergewöhnlich. Die Verwerfungen
im Plan der Arbeitszeiten lasse ich beiseite. Denn es geht – wenn auch im Nachhinein
– um den Ostersonnabend.
Hier in der Stadt und auch auf dem Lande wurde er als
Totengedenktag begangen. Es ist die sehr dem Leben zugewandte Denkart der
Slawen, diesen Tag im Frühling zu begehen. Nicht wie der feuchte Novembertag,
an welchem wir in Deutschland unserer Ahnen gedenken. Von dem Heinrich Heine im
„Wintermärchen“ passend schrieb: „Im traurigen Monat November war's, die Tage
wurden trüber…“
Außerdem ist der hiesige Gedenktag echt dem Leben zugewandt –
wie ich nach 21 Jahren im Lande deutlich bemerke.
Schon Wochen zuvor sieht man
an und vor allen Märkten zusätzliche Verkaufsstände, an denen Papierblumen und
Gebinde daraus feilgehalten werden.
Mich verwunderte daheim, dass meine Ehefrau
die Blüten aller gekauften Blumen mit
veschiedenfarbigem Nagellack zusätzlich „dekorierte“. Erklärung: sie wolle nicht,
dass diese von der Grabstelle entfernt und wiederverkauft würden!
Ist der Feiertag
gekommen, begeben sich die lebenden Familienmitglieder auf die Friedhöfe. Die
kurz zuvor – meist eine Woche – in Ordnung gebrachten Grabstellen (Unkraut
entfernen, Gitter streichen u. s. w.) werden mit den Papierblumen (immer streng
in gerader Anzahl – zu anderen Anlässen werden immer Blumen mit ungerader
Blütezahl überreicht) ausgeschmückt und vor den Grabsteinen wird etwas zum
Essen (Brotscheiben bzw. ein Stück des „pas´cha“ genannte Osterkuchens, dazu
ein gefärbtes Ei und Bonbons oder etwas Konfekt) als Gabe für den Verstorbenen
abgelegt. Jeder Tote, auch die Frauen, bekommt ein kleines Glas Wodka
beigestellt.
Die Hinterbliebenen nehmen an den Gräbern einen kleinen (manchmal auch
soliden) Imbiss ein, trinken einen Wodka ohne anzustoßen darauf, dass „die Erde ihnen
leicht sei“ und gehen nach angemessener Zeit heim.
Unsere „Zeremonie“ war in
diesem Jahr etwas ereignisreicher. Wie in jedem Jahr, hatte die Polizei die
Anfahrt zum Friedhof als Einbahnstraße gestaltet. Wir parkten in einer Lücke
weit vor dem Parkfeld, das wir gewöhnlich aufsuchten. Deshalb sah ich auch zum
ersten Mal eine beachtlich große Gruppe von Zigeunern, zwischen denen gefüllte
Säcke standen oder lagen. Sie räumen von allen durch die Besucher verlassenen
Gräbern die Grabbeigaben ab und verwenden vor allem Backwaren als Viehfutter. Dass
der eine und andere vom geleerten Wodka schon Schlagseite hatte, ist ein
Teilthema.
Als ich am Eingang zum Friedhof einer wirklich bedürftig aussehenden
Oma das Kleingeld aus meinem Taschengeld reichen wollte, bremste mich meine
Natascha unsanft. „Nachher, beim Rausgehen. Oder willst du Eintritt bezahlen?“
Auf dem Weg zu den Grabstätten ihrer Eltern und Großeltern kam uns ein Priester
in Ornat entgegen. Er wendete sich auf gleicher Höhe mir zu: „Guten Tag, Herr Siegfried,
schön sie zu sehen. Vater Alexander – sie erinnern sich?“ Wir waren gemeinsam
einmal von Berlin bis an die ukrainische Grenze in einem von der Kurie
gekauften Kleinbus gefahren, welcher in Polen demontiert und danach bei ganz
bedeutender Verringerung des Einfuhrzolls als „Ersatzteilspender“ in die
Ukraine kommen sollte. Wir sprachen kurz miteinander – er war auf unserer Reise
ein angenehmer Partner.
Anschließend sah ich, wie eine offensichtlich sehr
bejahrte, aber einsame Frau ihren Gedenktag begann. Offensichtlich nur im „Genuss“
einer schmalen Rente – vielleicht sogar unterhalb des staatlich fixierten Existenzminimums
– ging sie mit einer einzigen Papierblüte
und einem Taschentuch mit winzigen Speiseinhalt zum Grab eines ihr teuren Menschen…
Wir erfüllten an den Gräber unserer Verblichenen die traditionellen Pflichten. Noch
während wir etwas aßen und tranken, streifte eine bejahrte Zigeunerin an den Gedenksteinen
vorbei. Natascha bat sie sehr deutlich, ihre erkennbare Absicht erst nach
unserem Fortgang zu vollenden…
Auf Bitte meiner Frau änderten wir unseren
Rückweg. Als erstes zeigte sie mir einen Gedenkstein, der so protzig war, dass
ich erneut an die arme Frau auf dem Hinweg denken musste… Aber die große Überraschung
kam, als ich auf der Hauptallee zu den Gräbern der in der Ostukraine vor Kurzem
erst gefallenen Kämpfer aus Bila Tserkwa kam.
Nicht umsonst hat die Stadt
diesen ihren ehemaligen Bürgern einen besonderen, einen Ehrenplatz
eingerichtet. Er ist nur mit dem Wort „würdig“ bestmöglich zu charakterisieren.
Es bleibt zu hoffen, dass die Zahl der vorhandenen Gräber nicht weiter zunimmt.
Mein Widerwille gegen jede Art militärischer Gewalt ist weiter gewachsen. Frei
nach dem Satz: „Jeder Soldat ist ein potentieller Mörder“ sind für mich
ukrainische und russische Opfer eines von politischen Führern angezettelten
militärischen Konflikts in der Doppelrolle Täter-Opfer zu bedauern. Denn die
Organisatoren trifft es doch nicht…
Bleiben Sie recht gesund!
Ihr
Siegfried
Newiger
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