Mittwoch, 22. Juni 2016

Aufklärer



Vor 75 Jahren begann die Fortsetzung des Zweiten Weltkriegs mit der von deutschen Generälen im Auftrage Hitlers vorbereiteten Aggression gegen die damalige Sowjetunion. 
Als ich vor 35 Jahren im ukrainischen Kriwoi Rog als Dolmetscher einer Gruppe von Technikern der Nationalen Volksarmee der DDR am Umschulungskurs auf das Transportflugzeug An-24 teilnahm, war ich an diesem Sonntag zum Angeln an einem idyllischen Waldsee eingeladen worden. Da meine Gastgeber am Gewässer ein kleines Picknick organisierten, um der Opfer des Krieges zu gedenken, war ich etwas beschämt – hatte ich doch dieses für die meisten Sowjetbürger historisch einschneidende Datum übersehen. 

Gestern habe ich zwei Dinge getan. Als erstes – in Russisch – die beiden Bücher des in unserem DDR-Sprachgebrauch als „Aufklärer“ bezeichneten Mitarbeiters des militärischen Abwehrdienstes der Sowjetunion zu lesen beendet. Viktor Suworow stellt in „Der Eisbrecher“ und „Der Tag M“ seine Sicht auf die Ursachen und Abläufe des Zweiten Weltkrieges dar. Für mich hat er damit Aufklärung geleistet. 
Erstmals habe ich die irrsinnige Arbeitsanspannung aller an der geheimen sowjwetischen Mobilmachung beteiligten Personen und Einrichtungen erfasst. Außerdem ebenfalls die menschenverachtenden Praktiken der damaligen politischen Führung. 
Dazu verhalf mir noch die „Secondhand-Zeit“ der vorjährigen Nobelpreisträgerin für Literatur Svetlana  Alexijewitsch. 

Die in „Wikipedia“ anzutreffende Einschätzung, dass beide erstgenannten Bücher geschichtlich unsachlich sind und Fehler enthalten, störte mich nicht. Denn ich hatte durch Zufall im Internet zuvor dieses folgende Video von Andreas Popp gesehen: https://youtu.be/J4rHWM8rEqI . Im dazugehörigen Text fand ich das mir bekannte Wort von Albert Einstein: „Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten.“ 
Deshalb bin ich fest davon überzeugt, dass auch bei den Historikern das Festhalten an „ihrer Wahrheit“ (von ihnen veröffentlichter „Lehrmeinung“) dazu führt, dass sie unkritisch mit sich selbst andere Sichtweisen abweisen. 
Selbst wenn 10 % der von Suworow angeführten Fakten falsch sein sollten, sind die restlichen 90 % für mich ausreichend, zum dritten Mal im eigenen Leben angeblich „gesicherte Erkenntnisse“ (Ideologien, Weltsichten…) über Bord zu werfen und die Fragen anders zu stellen. 
So, wie es auch Andreas Popp empfiehlt. Mir reicht es ebenfalls, zu dem „anderen Volk“ zu gehören, welches sich die Volksvertreter über die Vermassungsmedien schaffen, wenn der dennoch aufgeklärte Bürger unbequeme Fragen stellt. 

Vor den genannten Büchern las ich die Erinnerungen von Skorzeny und Schellenberg, dazu das Buch über den als Soldat erfolgreichsten deutschen und als Persönlichkeit unbeugsamen Jagdfliegers Erich Hartmann  – aber auch die des als Soldat nach Stalins Tod aus der Roten Armee entlassenen sowjetischen Luftmarschalls Golowanow. 
Ihnen, die Sie diese Zeilen lesen, kann ich den von mir vollzogenen Sichtwechsel zwar empfehlen, aber nicht anweisen. Bitte lesen Sie zumindest die beiden auf Deutsch erhältlichen Bände – „Der Eisbrecher“ und „Der Tag M“. 
Selbst einem militärisch nicht „vorbelasteten“ und vor allem unvoreingenommenen Leser wird – mit etwas Mühe, der russisch-sowjetischen Grundlagen wegen – sich erschließen, dass es stimmt, was die Ukrainer hier scherzend formulieren: „Was ist der Unterschied zwischen Gott und den Historikern?“ Antwort: „Gott kann die Geschichte nicht mehr ändern.“ 

Die Tatsache, dass auf Stalins Schreibtisch das Werk des sowjetischen Generalstabschef Marschall Schaposchnikow „Das Hirn der Armee“ von 1929 lag und er als einzige Person seiner Umgebung diesen Militär mit Vor- und Vatersnamen anredete, bewies mir, dass die in dem Werk geäußerten Vorstellungen zu Stalins Credo wurden. 
Etwas Ähnliches: Cato der Ältere widerholte vor dem römischen Senat bekanntlich bei jeder Gelegenheit etwa schon 150 Jahre v. Chr.: „Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Karthago zerstört werden sollte.“ Diese beständige Kriegshetze führte zum Dritten Punischen Krieg mit Zerstörung Karthagos.    

Bleiben Sie recht gesund! 

Ihr 

Siegfried Newiger






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